Klettern im Elbsandstein
Eigentlich fehlt jetzt nur noch der Steinschlag. Aber das ist Quatsch. Ich hänge an einem festbetonierten, rechteckigen Stück Eisen. Über mir ragt das nächste aus der Felswand und ich muss mein gebeugtes Knie nur strecken. Ich muss es strecken, sonst erreiche ich die übernächste Eisenklammer mit meiner linken Hand nicht. Und Steinschlag gibt es im Elbsandsteingebirge nicht, sagt man, sagt Paul. Leichte Handschuhe wären übrigens super gewesen. Habe ich aber nicht dabei. Nur recht gute Wanderschuhe mit ordentlichem ‚Grip‘. Immerhin, also los!
Meinen Herzschlag spüre ich deutlich an der Halsschlagader, langsam ist der nicht. Die Adrenalinpumpe ist gut am Ausschütten. Ich rede mit mir selbst: „Angst ist ein schlechter Begleiter! Angst lähmt dich. Was soll’n die anderen denken? Atme tief, tief habe ich gesagt, verdammt noch mal!“ Ich drücke das Knie durch und greife mit der linken Hand zu. Es geht. Und nochmal und nochmal. Ich habe ein kleines Plateau erreicht. Durchatmen. Jetzt gibt es an der linken Felswand ein Stahlseil. Daran festhalten und langsam Schritt für Schritt weiter nach oben klettern. Ich bewege mich in Zeitlupe und schaue mich um. Was machen die anderen?
Paul, unserer Bergführer und Freund der Tochter, eingeborener Dresdner, geht an dritter Stelle. Direkt hinter mir die beste Ehefrau von allen. Anspannung auch in ihrem Gesicht. Aber sie macht es richtig gut. Vielleicht bin ich einfach zu alt? Immerhin bin ich ein grad60-iger, eher plus60-iger. Ach Blödsinn! Ich drehe mich zum Felsen zurück und klettere vorsichtig nach links weiter. Die Wand ist hier zwar mit einem leichten Vorsprung versehen, ohne Hilfsmittel wie Eisenklammern und Stahlseile wäre er aber für uns Flachlandtiroler nicht zu bewältigen. Auch hier komme ich unbeschadet rüber. Anschließend erwarten mich noch mindestens zehn weitere Eisenklammern, auf die ich nach oben steigen muss. Rechts und links Felswände; es wird enger.
Ich bin oben. Ich atme und kann wieder denken. Der Puls ist nicht mehr so stark, leichter Schwindel zeugt vom Adrenalinausstoß. „Alles wird gut“, ich rede schon wieder mit mir selbst. Das muss aufhören. Als Ältester der Gruppe möchte ich nicht mehr als nötig auffallen. Stolz wie ein Sachse ruhe ich mich hinter dem nächsten Vorsprung an der Felswand lehnend aus und beobachte die anderen, wie sie aus der Felsspalte nach oben kommen.
Aber beginnen wir doch mal am Anfang:
Vor einigen Wochen haben wir – eine gute Freundin nebst Sohn, meine Frau und unsere Tochter – den Freund unserer Tochter, Paul aus Dresden, gefragt, ob er nicht eine interessante Klettertour durch das Elbsandsteingebirge kennen würde. Er kenne Dutzende. Welche Ansprüche wir denn hätten? „Naja, nicht so leicht“, höre ich meine Frau fordern. Die spinnt wohl. Aber die anderen sind auch für die ‚Vier-Stiegen-Tour‘. Ich beuge mich.
Aus Bad Schandau, wo wir in einem kleinen netten Hotel wohnen, reisen wir mit der Kirnitzschtalbahn an, um an der Station Beuthenfall auszusteigen. Hinter den Gleisen drehen wir uns Richtung Wald, überqueren die Kirnitzsch und marschieren auf dem breiten Wanderweg, dem Dietrichsgrund, los. Es ist 11:00 Uhr. Schon nach 50 Metern zeigt Paul nach rechts und sagt: „Hier müssen wir jetzt hoch!“ Okay. Die Atemfrequenz nimmt kontinuierlich zu. An einer Gabelung halten wir uns links und laufen direkt auf das Affensteinmassiv mit dem Bloßstock zu. Nach rund 40 Minuten sind wir an der Häntzschelstiege, die uns das erste Mal so richtig fordert.
Die kurze Zwangspause, bis alle oben sind, ist vorbei. Es geht weiter. Ich möchte gerne vorne gehen und das Tempo bestimmen. Das macht alles etwas leichter, das kenne ich vom Joggen. Ich darf.
Bald schnaufe ich wieder kräftig und habe gut zu tun damit, mich und meinen acht-Kilo-Rucksack mit Wasser und Verpflegung den Berg hinaufzuwuchten. Die anderen folgen. Unbeeindruckt? Ich weiß nicht. Die Jungspunde zeigen keine schwächelnden Reaktionen. Die beiden Frauen haben aufgehört zu schnattern, das machen sie eigentlich nie. Aha, sie brauchen ihre Luft zum Überleben. Gut so.
Den unteren Teil der Häntzschelstiege haben wir geschafft. Bevor es zum oberen Teil geht, nehmen wir linksseitig noch einen Aussichtspunkt mit, der einen traumhaften Blick auf die Brosinnadel freigibt. Wir gehen weiter auf eine Felsspalte zu, die den Einstieg bildet. Mit großen Rucksäcken kommt man da nicht durch. Bei mir klappt’s. Rechts und links ragen die Felswände nach oben; am Ende des kurzen Pfades führt ein Kaminaufstieg weiter. Auf Metallbügeln und Leitern, nur nach oben schauend, bloß nicht nach unten (obwohl ich schwindelfrei bin), arbeite ich mich voran. Reine Konzentration auf den nächsten Schritt, keine Gedanken an etwas Anderes verschwenden, immer weiter. Nach zehn Höhenmetern erblicke ich das Tageslicht wieder. Oben angekommen, muss ich die von meiner Wandseite auf die gegenüberliegende wechseln. Ein Schritt von nur rund einem Meter, aber über eine 15 Meter tiefe Felsspalte hinweg. Es ist nicht weiter schwierig, den Blick abwärts sollte man sich aber sparen. Es folgt der letzte Teil der Häntzschelstiege, der einige Meter rechts auf Metallbügeln steil nach oben führt. Jetzt geht es einfacher weiter und endet auf dem Langen Horn mit schönem Rundblick.
Nach einigen Minuten auf dem Reitsteig kommen wir am Abzweig zum Carolafelsen vorbei, der höchsten Erhebung (452 Meter) auf unserer Strecke; diesen ganz besonderen Felsen nehmen wir natürlich mit. Der Aufstieg ist einfach und oben ist es voll. Es ist aber auch ein irrer Panoramablick, den man hier genießen kann. Alle Achtung, das ist wirklich ein sehr schönes Stück Erde hier in der Sächsischen Schweiz.
An einer Kreuzung von vier verschiedenen Wanderwegen machen wir Halt. Wir sind nicht die einzigen. An diesem schönen Herbstsamstag sind viele unterwegs. Wasser nachschütten, einen Apfel, einen Schokoriegel einatmen und genießen.
Ein (noch) älterer Mann aus einer anderen Gruppe haut allen, die es hören wollen oder auch nicht, sein Repertoire an begeisterten Adjektiven und Umschreibungen um die Ohren: „Faszinierend, wahnsinnig, fantastisch, fabel- und sagenhaft, einmalig, wie im Märchen“. Dann atmet er tief ein und aus und sagt: "Ach, dieser Herbst stärkt einfach die Sinne!" Er hat so Recht.
Paul nutzt die kleine Unterbrechung, um uns weitere Details der Tour nahe zu bringen. Die Strecke ist rund 9,6 km lang, dauert mindestens fünf Stunden und wird als schwer bewertet. Wir werden 616 Höhenmeter überwinden müssen und sollten unbedingt die Nerven behalten. Als besondere Highlights liegen noch die Zwillingsstiege, das Bauerloch sowie die Idagrotte vor uns.
Wir sind ein wenig stolz darauf, dass wir den schwierigsten Teil -die Häntzschelstiege- bereits gemeistert haben und machen uns gestärkt wieder auf den Weg.
An dieser Weggabelung nehmen wir den mittleren Pfad. Es folgt ein Rundkurs über die Wilde Hölle, der zunächst verwegen bergab auf felsigem Untergrund führt und in einer immer feuchten Stiege endet. Der Weg mündet anschließend in die Affensteinpromenade, der wir nach rechts folgen. Nach rund 20 Minuten steigen wir in Richtung Zwillingsstiege auf, an deren Fuß wir atemholend kurz verweilen, um dann etwa zehn Minuten lang auf Eisenklammern und Rampen hochzuklettern. Auch das ist nicht ohne Reiz für’s Nervenkostüm; wir sind inzwischen aber Einiges gewöhnt und setzen gelassen Fuß vor Fuß und Hand vor Hand. Landschaftlich einmalig geht es durch das Bauerloch weiter aufwärts. Mit Blick auf Falkenstein und Schrammsteine schreiten wir den schönen, scheinbar wenig begangenen Pfad bergab und kommen wieder an der Weggabelung an. Wir sind jetzt rund drei Stunden unterwegs.
Die letzte Etappe führt uns nach einem kurzen Abzweig zur Idagrotte wieder über die Obere Affensteinpromenade, den Königsweg und Hinteren Heideweg zurück zum Dietrichsgrund, von wo aus wir gestartet sind. Wir sind erschöpft, aber glücklich. Leichten Herzens mit freiem Kopf schreiten wir dahin. Es geht ständig bergab, logisch, nachdem wir fast ausschließlich bergauf gegangen sind.
Paul schließt unsere Wanderung mit der Frage ab, ob wir nicht die Abkürzung zum Lichtenhainer Wasserfall direkt zur Straße runter nehmen wollen, statt den längeren Weg über den Beuthenfall zu nehmen. Na klar, das schaffen wir auch noch. Kaum hat er unsere Antworten gehört, stürzt er sich nach rechts ins Gebüsch und ist mit den jungen Hüpfern Stefan und Sina weg. Ticken die noch richtig? Ich schiebe die ziemlich dicht gewachsenen Pflanzen auseinander und blicke nach unten. Ein richtiger Weg ist das nicht, eher so’n Gemsentrampelpfad. Ich bin bisher nicht gestolpert und auch nicht gefallen, so soll es auch bleiben. Langsam und Halt suchend an Ästen, Vorsprüngen, Steinen und Wurzeln arbeite ich mich nach unten. Toller Abschluss, von wegen. Ein letztes Schweißbad, der Rücken ist nass und der Atem geht schnell. Aber wir „Alten“ schaffen das auch. Unten stehen grinsend die „Jungen“ und empfangen uns mit anerkennenden Kommentaren.
Schön war sie, diese Wanderung; Bravo und Dank an Paul, unseren Bergführer, toll gemacht!
Ich gebe Euch mein Wort und da bin ich nicht der Erste oder Einzige, während eines Aufenthaltes in der Sächsischen Schweiz werdet ihr fasziniert sein von der atemberaubenden Natur und stolz auf das, was ihr dann geschafft habt – so viel steht fest.
Wenn ihr Ähnliches erlebt habt, diesen Blockeintrag kommentierten oder Bilder beisteuern wollt, schreibt uns: info@grad60.com
Wir freuen uns!