Weihnukka
„In Chicago arbeitete Robert Lewis May als Werbetexter für das Kaufhaus Montgomery Ward. Im Jahre 1939 sollte er zum Weihnachtsfest ein Kindermalbuch entwerfen. Er machte sich unverzüglich an die Arbeit. Nach wenigen Tagen war er fertig. Es war die Geburtsstunde des jungen, aus der Art geschlagenen Rentiers mit der leuchtenden Nase, von Rudolph. Das Malbuch war ein großer Erfolg für das Kaufhaus. Was lag näher, als daraus ein Weihnachtslied zu machen? Vertont wurde der Text aber erst 1949 durch den Komponisten Johnny Marks, er war der Schwager von May. Auch ein Jude. Überhaupt stammen über 90 % aller englischsprachigen Weihnachtslieder von jüdischen Autoren und Songwritern.“ Mit spöttischem Blick mustert Judith Kessler das Publikum. „Das passte den Christen genauso wenig wie den strenggläubigen Juden. Ihr versteht? Aber eigentlich sind die Amerikaner tolerant; sie nahmen es hin. Was blieb ihnen auch anderes übrig.“ Unsere Erzählerin berichtet mit Witz und Charme von bekannten und nicht so geläufigen Weihnachtsliedern und versetzt nicht nur mich immer wieder in Erstaunen. „Das habe ich nicht gewusst“, flüstert meine Frau. Ich auch nicht. Judith verlässt die Bühne und Julie Wolff erweckt mit ihrer wunderbar changierenden Sopranstimme das Red-Nose Reindeer zum Leben. Sie wird begleitet von Daniel Stawinski am Klavier und von Jotham Bleiberg mit Trompete oder Flügelhorn.
Wir sind auf dem jüdischen Kulturschiff MS Goldberg, das in Berlin-Spandau unterhalb der Dischinger Brücke am Havelufer vertäut liegt. Heute wird Weihnukka gefeiert und wir sind dabei. Weihnachten und Chanukka, die Synthese beider Feste, gefeiert durch Juden ab Anfang des 19. Jahrhunderts. In jüdischen Familien entstand das sogenannte „Dezember-Dilemma“, nämlich der Wunsch, dem großen christlichen Fest Weihnachten mit seinen Traditionen, Feierlichkeiten und Geschenken etwas Gleichartiges an die Seite zu stellen. Es waren die weniger Strenggläubigen, die sich weder dem einen noch dem anderen Fest verweigern wollten. Dieses Jahr findet Chanukka so spät statt, dass tatsächlich beide Feste zusammen zelebriert werden können. In diesem Fall feiern wir zusammen mit rund 150 anderen Gästen und den Protagonisten auf der Bühne jüdische und christliche Weihnukka-Lieder, hübsch aufgeteilt in Geschichten und Performance. Und es ist fantastisch. In der Pause genießen wir Glühwein und jüdisches Chanukka-Gebäck und schauen uns um. Die Innenräume können ihre eigentliche Herkunft als Stückgut-Frachter zwar nicht wirklich verbergen, aber es ist interessant dekoriert und theatermäßig eingerichtet.
Die 67 Meter lange MS Goldberg wurde 1964 gebaut und erhielt ihren Namen nach einem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern. Nach umfangreichem Umbau wurde am 23. Mai 2022 der Veranstaltungsbetrieb begonnen und das ehrenamtlich tätige Team organisiert seitdem Theatervorstellungen, Lesungen, Konzerte, Talk-Runden oder Filmvorführungen mit dem Fokus auf jüdische Kultur. Der Kahn legt nicht nur an Berliner Ufern an, sondern ist deutschlandweit unterwegs. Ich schaue auf den Spielplan, was uns denn heute noch so erwartet.
Das Chanukka-Medley reißt uns fast von den Stühlen. Viele Gäste kennen die Texte und klatschen begeistert den Takt mit. Daniel und Jotham wechseln sich mit Soli ab und ernten jedes Mal Szenenapplaus. Zu Recht. Tolle Musiker. Schließlich erklimmt Judith wieder die Bühne und erzählt uns die Geschichte des Songs „White Christmas“. „Den Namen des Komponisten Israel Isidore Beilin kennt wohl kaum jemand, oder?“, fragt sie das Publikum. Wir nicken. „Durch etliche Schreib- und Übertragungsfehler wurde daraus Irving Berlin, der bekannteste Songwriter Amerikas. Über 1.000 Lieder gehen auf sein Konto. Sein erster Erfolg war ,Alexander´s Ragtime Band´.Aber viel populärer ist die inoffizielle amerikanische Nationalhymne ,God bless America´“, fährt sie fort. Judith verteilt in ihren Geschichten viele kleine Spitzen in beide Richtungen, Christen und Juden. Launisch und pointiert weiß sie das Publikum zu fesseln. Ich lasse meinen Blick schweifen. Die Musiker haben die Bühne verlassen. Das Klavier steht allein da. Hübsch illuminiert ist es sinnbildlich für diesen schönen Abend.
„Im Gegensatz zu den deutschsprachigen Weihnachtsliedern, in denen es fast immer um Jesus, Krippe, Hirten, Engel geht, könnte man die Inhalte der englischsprachigen Weihnachtslieder unter dem Begriff ‚Weather Carols‘ oder ‚Snow Songs‘ zusammenfassen. Es geht immer irgendwie um Wetterbedingungen. Bing Crosby hat ,White Christmas´ berühmt gemacht. Seit 1947 sollen mehr als 50 Millionen Singles verkauft worden sein.“ Judith beendet ihre Moderation und Julie mit ihren Musikern legt wieder los. Es ist Showdown. „The first Noel“, „White Christmas“ und „Have yourself a merry little Christmas“ beenden den Abend. Standing Ovation motivieren die Band noch zu einer Zugabe. Julie meint, dass es sich zwar nicht wirklich um ein Weihnachtslied handelt, aber wenn man an die viele Schokolade denkt, passt es schon. Da hat sie recht. Es ist das Lied „Ich will keine Schokolade“, einst gesungen von Trude Herr. Gegen 22:15 Uhr ist endgültig Schluss. Ich trete noch einmal an die Bühne und bewundere die pfiffig gemachte Deko zum Thema „Weihnukka“.
Beschwingt verlassen wir das Schiff. Grauer Nebel und nasskalter Wind kriechen unter die Klamotten. Bloß schnell zum Auto. Das Resümee ist eindeutig: Der Abend war ausgesprochen kurzweilig und überaus interessant. Tolle Protagonisten und Hut ab vor dem ehrenamtlichen Engagement. Wir vermuten, dass die Kosten des künstlerischen und technischen Betriebes sehr hoch sind und allein durch die Einnahmen aus dem Ticketverkauf nicht gedeckt werden können. Sie sind bestimmt auf Spenden angewiesen; eine Kleinigkeit haben wir auch in die Box getan.
Wer mehr erfahren will, hier klicken: Kulturschiff MS Goldberg