Charité-Rundgang, Medizinhistorie vom Feinsten
„Barmherzigkeit sei unser Auftrag!“ Damit könnte die Geschichte des traditionsreichsten Krankenhauses Berlins beginnen, haben wir uns gedacht. Aber das ist so nicht richtig, das passt nicht. Die Anfänge gehen auf ein im Jahr 1710 gegründetes Pesthaus zurück und eine der größten Universitätskliniken Europas sollte nach der Wende abgewickelt und geschlossen werden, erfahren wir später. Wir haben über das Portal von Momo einen Charité-Rundgang gebucht und begeben uns heute auf die Suche nach Spuren von Rudolf Virchow, Robert Koch, Ferdinand Sauerbruch, Emil von Behring und Karl Bonhoeffer. Es ist Donnerstag, 14:00 Uhr. Wir stehen unter dem Charité-Turm in Berlin-Mitte und werden von Eberhard Post begrüßt, unserem Guide an diesem herrlichen Frühlingsnachmittag.
Kurzer Smalltalk und wir begeben uns auf die andere Straßenseite. Es ist hier etwas schattig, aber Eberhard fesselt mich sofort mit seinen Ausführungen, sodass ich die kühle Luft gar nicht merke. Den anderen neun Teilnehmern scheint es ähnlich zu gehen. Schon nach kurzer Zeit ist uns klar, dass wir heute Abend um einiges besser informiert sein werden als der durchschnittliche Google-Nutzer. Eberhard sprudelt nur so mit Zahlen, Daten, Fakten. Könnte langweilig sein, ist es aber nicht. Zwischendurch ein Bild, einen Stadtplan oder ein Schriftstück aus seinem Ordner, damit variiert unser Guide seinen Vortrag.
Wir gehen die Schuhmannstraße entlang, weiter Richtung Osten und stoppen in Höhe der ehemaligen Privatklinik von Professor Paul Straßmann, gegenüber der Hausnummer 18. Das Gebäude wurde 1908/1909 nach einem Entwurf von Max Fraenkel errichtet, es ist ein Baudenkmal und wird als Straßmannhaus bezeichnet. Eberhard beschreibt die Geschichte dieser jüdischen Familie und auch anderer Juden in Berlin. Er kommt auch auf die Nazi-Zeit zu sprechen und betont die Verstrickung und die Verbrechen einiger Charité-Ärzte während der Hitler-Herrschaft. Auf einer Tafel können wir seine Aussagen zum Frauen- und Geburtshaus überprüfen.
Es sind bestimmt schon 40 Minuten vergangen und die leptosomen Beinchen beginnen leicht zu schmerzen. Die Gewichtsverlagerung von einem Fuß auf den anderen hilft, denn wir stehen natürlich nur, sitzen ist nicht, Standfestigkeit ist also gefragt. Und wir hören weiter zu. Herr Post könnte auch in einem Hörsaal der Humboldt-Universität für angehende Mediziner seinen Vortrag halten, davon sind wir überzeugt. Medizinhistorie vom Feinsten, sehr interessant. Nächste Station ist das imposante Denkmal für Albrecht von Graefe, dem Begründer der Augenheilkunde.
Wir sind ein Hindernis, ohne Zweifel. Das um uns herum wuselnde Volk sucht immer wieder eine freie Gasse zwischen uns, den Zuhörenden, und dem Guide, wenn wir auf dem Gehweg stehen und einen Klumpen Mensch bilden. Erstaunlich, wer hier alles unterwegs ist. Es scheinen Studenten zu sein und Patienten und Touris. Aber ich sehe auch Krankenhauskleidung. Ärzte, Ärztinnen, Krankenschwestern und Pfleger machen Pause und schlendern durch die Luisenstraße. Sie ist gut gefüllt, sehr lebendig, eine spannende Szene hier vor der Charité. Ein Boulevard der Medizin. Aber ich bin abgelenkt, weiter geht’s.
Zwei Stopps später stehen wir am Denkmal für Robert Koch. Bänke locken zum Niederlassen. Der Platz reicht aber nicht für alle, da teilweise schon besetzt. Es ist hier noch deutlicher, wir sind mitten im Univiertel, quasi auf dem Campus. Überall gehen, stehen, liegen und sitzen sie, die Studierenden. Ich kann nicht anders, ich fühle mich hineingezogen in die Lehr- und Lernatmosphäre. Mittendrin und nicht nur dabei. Klasse. Und Eberhard erscheint mir der König des Augenblicks zu sein.
Mit wohlgesetzten Worten baut er Bild für Bild eine Laborkulisse vor uns auf. Es ist das Jahr 1876. Robert Koch gelingt es, den Erreger des Milzbrands außerhalb des Organismus zu kultivieren. Sechs Jahre später entdeckt er auch den Erreger der Tuberkulose und entwickelt das vermeintliche Heilmittel Tuberkulin. Gespannt lauschen wir. Unser Guide macht das einfach sehr gut. Keine Frage, der Mann ist vom Fach. Mit klarer Sprache, nicht zu schnell, wendet er sich seinen Zuhörern abwechselnd zu und sucht Augenkontakt. Zwischendurch nimmt Eberhard einen Schluck aus der Wasserflasche. Hat er sich verdient. Die Truppe zieht weiter. Über die Hannoversche und die Philippstraße gelangen wir auf das Gelände der Humboldt-Universität. Die Sonne nähert sich langsam dem Horizont, die Uhr steht auf 16:15. Es sind schon mehr als zwei Stunden vergangen. Das Ende naht.
Nach zwei weiteren Informationsstopps betreten wir das Tieranatomische Theater, ein Haus, das seit über 200 Jahren der Wissenschaft eine eindrucksvolle Bühne bietet. Es ist Berlins ältestes noch erhaltenes Lehrgebäude, dessen Architekt Carl Gotthard Langhans auch das Brandenburger Tor schuf. Ich nehme im altehrwürdigen Lehrsaal weiter oben Platz und fühle mich ein Mal mehr als Student der Medizinhistorie.
Eberhard Post kommt zum Ende. Auch jetzt, nach über zweieinhalb Stunden, sind seine Ausführungen immer noch überaus detailliert, ohne langweilig zu sein. Resümierend stellen wir fest, dass diese Tour uneingeschränkt zu empfehlen ist. So viel Wissensvermittlung auf einen Haufen ist uns ziemlich unheimlich. Und so wie uns geht es wahrscheinlich vielen aus der Gruppe. Etwas weiß man, hat etwas gelesen oder gehört und plötzlich flasht einen der typische „Aha“-Effekt, wenn man schlagartig die Zusammenhänge begreift. Dank Eberhard.
Und eine Frage treibt uns noch um: Was hat Eberhard studiert? Medizin? Geschichte? Biologie? Nein! „Ich war Drucker und habe mir das Wissen für die Tour im Selbststudium beigebracht!“, so verblüfft er uns. Einhundertachtzig Minuten Vortrag ohne Spickzettel. Respekt!
Die Teilnahme an der Tour war für uns kostenlos, da wir über einen gesponserten Momo Pass verfügen. Wir unterstützen diese kommerzielle Seite Momo, da hier interessante Aktivitäten und Kurse angeboten werden und die Idee genau zu unserem Motto passt: „Jetzt haben wir Zeit für uns“. Neben der kostenlosen Teilnahme haben wir keine Bezahlung oder sonstige Vergütungen erhalten und auch den Bericht haben wir ohne jede Beeinflussung geschrieben.
Ein letzter Blick zur Decke des Vorlesungssaals und wir trollen uns. Das war ein Nachmittag ganz nach unserem Geschmack, so kann es gerne weitergehen mit den Aktivitäten von Momo.