Wo bleibt Paul? - Ein Berlin-Marathon-Bericht
Kilometer 32, es ist heiß, zu heiß für einen Marathon, 24 Grad im Schatten. Besser wären 17 Grad und Nieselregen. Aber es ist, wie es ist. Wir brüten in der Sonne, sind aber nur Zuschauer. Aber wo bleibt Paul? Der Tracker zeigte vor wenigen Minuten ein Passieren der Kilometermarke 31 an. Und jetzt? Das Symbol auf der Karte liegt wie festgenagelt auf der Hohenzollerdammbrücke, eine der wenige leichten Steigerungen der Berliner Marathon-Strecke, der nach London zweitschnellsten der Welt.
Wir stehen am Fehrbelliner Platz. Es ist ein guter Meeting-Point, um unseren Marathoni, unseren deutschen Hemerodromos nochmals anzufeuern. Es geht zwar heute nicht bis nach Athen, sondern nur bis zum Brandenburger Tor, es sind aber trotzdem 42,195 Kilometer.
Aber nichts passiert, Paul bleibt verschwunden. Schauen wir deshalb mal rund zweieinhalb Stunden zurück…
Auf der Straße des 17. Juni ist Start. Und die Vorbereitungszone reicht bis zum Reichstag. Auf der Wiese herrscht ein reges Treiben. Alles voller aufgeregter Marathonteilnehmer und Paul. Ich fühle mit.
Vor dem Start ist Fotoshooting angesagt. Im unverbrauchten Zustand, sozusagen. Gut schaut er aus und so zuversichtlich. Wenn der wüsste …
Wir verabschieden Paul und trennen uns. Paul geht zur Strecke und wir gehen zum ÖPNV. Die vereinbarten Treffpunkte fahren wir mit der U- und S-Bahn an. Zuerst geht es zum Alexanderplatz. Wir sind zu früh dran. Ich schaue mir die anderen Teilnehmer mal etwas intensiver an. Viele sehr locker, ist ja auch erst gut ein Viertel der Strecke bei Kilometer elf. Aber andere … Da würde ich nicht darauf wetten, dass die heil ankommen. Schließlich sehen wir Paul. Ich bilde mir ein, er ist noch entspannter als die anderen. Sehr profihaft, sehr aufrecht. Die Arme schwingen locker, der Schritt federt, der Blick geht nach vorn, als ob ihn nichts stoppen könnte. Und er ist voll in der Zeit.
Wir rufen ihm zum ersten Mal unser kräftiges „Gut siehst du aus, das schaffst du locker, hau rein, go Paul go…“, zu. Und nicht nur wir. Alle schreien und winken und klatschen. Zuschauer zu sein, ist auch mit Verpflichtungen verbunden. Jeder Läufer, jede Läuferin kann dank des Aufdrucks unter der Startnummer persönlich angesprochen werden. Und das sollte man auch tun. Die haben es verdient. Ich rufe Willi mit dem T-Shirt-Aufdruck „Mein Berlin-Marathon 2021 nur für dich“ alle guten Laufwünsche zu, die mir so einfallen. Meine spätere Recherche ergibt, dass seine Frau Bärbel im November 2020 verstorben ist und er offensichtlich diesen Lauf seiner toten Frau widmet. Vielleicht wollten sie ihn eigentlich zusammen laufen … traurig.
Paul senkt leicht den Blick, schaut doch mal auf die Fahrbahn, schaut wieder geradeaus und entschwindet mit Willi zusammen aus dem Bild. Guten Lauf, Willi und Paul!
Kilometer 21, unter den Yorkbrücken, reichlich Jubelvolk an der Straße. Das Läuferfeld ist ziemlich auseinandergezogen. Wenn Paul die 3:45 Stunden schaffen will, muss er jetzt aber bald mal kommen. Der Blick auf die Marathon-App mit seinem Tracker-Symbol zeigt an, dass er bald Richtung Gleisdreieckpark auf die Yorkstraße einbiegen wird. Auf einer der Brücken lese ich einen Schriftzug, der mich zornig werden lässt: Hertha BSC. Dieser Verein kostet mich schon wieder Mal die letzten Nerven. Es ist nicht zu aushalten, was die so machen oder eben auch nicht …
Mit angestrengtem Blick scanne ich die Läufer. Ich will Paul auf keinen Fall verpassen. Und ich bin gespannt, wie er aussieht. Wir sind immerhin bei der Halbmarathondistanz angekommen. Endlich sehe ich ihn. Immer noch erstaunlich locker mit zwei erhobenen Daumen joggt er an mir vorbei. „Super, Paul“, schreie ich noch und schon ist er weg.
Und hurtig wieder in die U-Bahn, wir wollen zum Kilometer 32. Ich drehe mich um und stelle fest, dass es plötzlich sehr voll unter den Brücken ist. Wo kommen die denn alle so plötzlich her, denke ich. Blockbildung? Lauftreffsampling? Oder nur die mittlere, durchschnittliche Geschwindigkeit der meisten Läufer, die irgendwie alle zufällig zusammenlaufen? Möglich. Als ich zur Kamera greife, rauscht im Hintergrund des S-Bahn über eine Brücke. Typisch Berlin!
Ab zum Hohenzollerndamm. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät, denke ich noch, als sich die U-Bahntür hinter uns schließt. Ziemlich voll, die Bahn. Dieses Meeting-Point-Hopping via ÖPNV machen wohl viele Leute. Ist ja auch megapraktisch, neben der Nutzung von Fahrrad oder E-Scootern, auf die man an der Strecke übrigens tierisch aufpassen muss, damit man nicht umgefahren wird.
Wenige Meter vom U-Bahnausgang Fehrbelliner Platz entfernt begrüßt uns eine Trommlergruppe. Endlich eine Band! In Coronazeiten an der Laufstrecke eher eine Seltenheit. Begeistert schaue ich ihr zu.
Rhythmisch schlage ich den Takt mit den Füßen mit und lasse meinen Blick weiter schweifen. Es gibt schon komische Sachen. Was sollen uns diese goldenen Buchstaben zum Beispiel sagen? Ist das ein Name? Wahrscheinlich. Aber welcher?
Oder der deutschpatriotische Kopfschmuck dieser Dame am Straßenrand. Eine Botschaft? Eine Meinungskundgebung? Wegen des Wahlsonntags? Oder soll es einfach nur bunt aussehen? Ich weiß es nicht.
Und da sind wir wieder bei der Frage aller Fragen: wo bleibt eigentlich Paul? Das Tracking-Symbol steht immer noch auf der Hohenzollerndammbrücke. Seltsam. Hoffentlich ist nichts passiert! Wir werden nervös. Um uns herum jubeln alle. Die Stimmung ist gelöst und die Trommlertruppe gibt alles.
Und endlich kommt Paul. Nicht mehr so entspannt, der Blick ist eher fragend, etwas unsicher. Als würde er denken: Schaffe ich das? Später erzählt er, dass der rechte hintere Oberschenkelmuskel gekrampft hat. Deswegen musste er auf der Brücke stehen bleiben. Hat Zeit verloren. Und vorher haben die Waden immer mal wieder geschmerzt. Überhaupt ist alles nur noch Schmerz, sagt er uns nach dem Rennen. Ich kenne das. Als ich vor gut 15 Jahren meinen ersten Marathon gelaufen bin, stand auch bei Kilometer 32 der Mann mit dem Hammer. Und es sind noch zehn Kilometer.
Armer Paul. Natürlich rufen wir ihm trotzdem zu, dass er es schafft. Wir versuchen ihn aufzumuntern. „Lauf, Paul, lauf, hau rein, gib alles!“ Er sendet uns noch kurz die Halsabschneidergeste des „Mir reicht´s“ und entschwindet in der Masse der Läufer.
Klatschnass hängt das T-Shirt am Oberkörper. Die Arme arbeiten noch gut mit. Die Beine wirken schwer. Die Haltung ist aber noch sehr aufrecht. Wir erwischen Paul an der Bülowstraße. „Nur noch fünf Kilometer“, rufe ich ihm zu und „Gib nicht auf!“ Wird er nicht, der ehemalige Eisschnellläufer. Da bin ich mir sicher. Aber seine Schritte sind nicht mehr federnd, sondern bleiern. Das sieht man. Alles im Körper schreit sicherlich: „Aufhören, ich will nicht mehr!“ Ich erinnere mich sehr gut. Es war am Schluss nur noch Krampf. Und man fragt sich immer wieder: „Warum? Warum eigentlich?“
Und Biene Maja schickt auch noch einen Gruß hinterher.
Ob Paul sich auf das Erdinger Alkoholfrei freut? Vielleicht. Aber viel mehr freut er sich bestimmt auf das Überschreiten der Ziellinie. Kurz hinter dem Brandenburger Tor ist es soweit. Er hat es geschafft.
Ein Dauergrinsen, Glücksgefühle, Schmerzen, Kribbeln auf der Haut und die Wunsch, sich unbedingt hinzusetzen. Aber es gibt auch die Angst, nicht mehr ohne fremde Hilfe hochzukommen. Kenne ich. Gefühlte Stunden später erscheint Paul endlich am Meeting-Point mit der Medaille um den Hals.
Stolz sind wir auf ihn. Er selbst auch. Aber fertig mit der Welt. Ich finde, er sieht noch recht gut aus. Das angepeilte Ziel hat er auch wegen der Hitze verpasst. Aber 3:56 Stunden beim ersten Marathon finde ich toll. So schnell war ich nie. Bravo Paul. Schulterklopfen, Bewunderung und Gedanken an eigene Erfahrungen. Und die Medaille ist auch ganz schön!
Der Weltrekord 2018 mit 2:01:39 Stunden ist heute nicht geknackt worden. Es war wohl selbst für die Äthiopier zu heiß. Und heiß ist es immer noch. Zu heiß für Pauls Füße. Die müssen mal raus aus den Schuhen. An die Luft und ins Wasser.
„Na Paul, war das dein erster und letzter Marathon?“, will ich von ihm wissen. Aus eigener Erfahrung ist mir klar, dass die Antwort kurz nach dem Zieleinlauf meistens „Nein“ lautet. Pauls Antwort: „Es war einfach ein tolle Stimmung unterwegs, immer standen Leute an der Strecke und haben gejubelt. Das hat mich bis ins Ziel getragen. Aber es war auch das Härteste, was ich je gemacht habe. Und du willst wissen, ob das der erste und letzte Marathon war? Frag mich in ein paar Stunden noch einmal. Im Augenblick würde ich eher nein sagen!“ Wusste ich doch.
Das war die Geschichte von Paul und seinem ersten Marathon. Habt ihr eine Laufgeschichte? Immer her damit! Wir werden sie garantiert veröffentlichen. Am besten eine Mail an info@grad60.com