Eingefroren am Nordpol - Eine Buchbesprechung
Mittendrin und nicht nur dabei, das wünsche ich mir oft. Und dann bricht am 20. September 2019 das deutsche Forschungsschiff „Polarstern“ - von mir völlig unbemerkt - zu einer noch nie da gewesenen Expedition auf. Ich hätte auf SWR 1 wöchentlich verfolgen können, wie Markus Rex und seine Crew und die mehreren hundert Forscher*innen im Verlauf der Expedition auf Gedeih und Verderb den Naturgewalten ausgesetzt waren. Ich hätte …
Erst über ein Jahr später, am 16. November 2020, werde ich in der ARD-Reihe „Erlebnis Erde“ auf die Dokumentation „Expedition Arktis – Ein Jahr. Ein Schiff. Im Eis“ und damit auf die abenteuerliche Reise des Forschungsschiffs „Polarstern“ aufmerksam.
Während auf dem Bildschirm eine atemberaubende Situation die nächste ablöst und ich meine Frustration über die verpasste Chance langsam vergesse, keimt in mir der Wunsch, noch viel mehr über diese größte Arktis-Expedition aller Zeiten zu erfahren. Zum Weihnachtsfest 2020 lasse ich mir daher das Logbuch „Eingefroren am Nordpol“ schenken und heute will ich es hier mit Euch besprechen. Und warum? Weil es mir ein Bedürfnis ist, Euch die Lektüre dieses unglaublich spannenden, toll gemachten Buches näher zu bringen. Geschrieben hat es der Expeditionsleiter Markus Rex, Professor für Atmosphärenphysik an der Universität Potsdam.
Ich will, dass Ihr - so wie ich - nicht nur dabei, sondern mittendrin bei der Bewältigung einer Aufgabe seid, die die Grenzen des Machbaren verschiebt. Daten zu sammeln über den Ozean, das Eis, die Atmosphäre und das Leben in einer Region, die menschenfeindlicher nicht sein kann. Unterwegs jenseits der menschlichen Zivilisation, in der zentralen Arktis, am Nordpol. Auf den Spuren des Norwegers Fridtjof Nansen, der Vorbild für diese MOSAiC-Expedition ist. Nansen hatte damals die natürliche Drift des Eises entdeckt und sich mit seinem Schiff zwischen 1893 und 1896 davon treiben lassen. Folgerichtig ist MOSAiC die Abkürzung für „Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate“.
„Eingefroren am Nordpol“ ist ein Logbuch. Logbücher dokumentieren den Fahrtverlauf eines Schiffes, sind ähnlich einem Tagebuch chronologisch verfasst und meistens langweilig, wenn nichts passiert. Aber bei dieser Expedition passiert so viel. Sofort fühle ich mich hineingezogen in das Abenteuer Arktis. Es beginnt…
Ich erwarte ein Feuerwerk spannender Ereignisse und vielleicht lässt mich Markus Rex auch teilhaben an seinen intimsten Gedanken und Überlegungen, an seinen Zweifeln und Enttäuschungen, an Hoffnungen und Glücksgefühlen. Erwartungsfroh schlage ich das Buch auf und bleibe gleich vorn an der Buchdeckelinnenseite hängen. Es ist die Landkarte der Expedition, die Peter Palm gestaltet hat. Hier kann ich mir genau anschauen, wo es losging, wie die Route war und welche Schiffe sich mit der „Polarstern“ getroffen haben. Supergut gemacht.
Das norwegische Tromsø liegt hinter mir, ich bin unterwegs zur Laptewsee vor Sibirien. Steuerbords lasse ich die Insel Sewernaja Semlja liegen. Es ist der Tag acht, wir schreiben den 27. September 2019, unter dem Schiff haben wir mehr als 3.000 Meter tiefes Wasser, es ist das zentralarktische Ozeanbecken. Ich stehe an Deck und atme tief die klare, kalte Luft. Es fröstelt mich leicht und so hole ich mir eine Jacke zum Wohnzimmersessel, um wieder in die Buchwelt einzutauchen. Wie gern wäre ich jetzt tatsächlich an Bord, mitten unter ihnen, wäre gern Teil dieser internationalen Truppe von interessanten Frauen und Männern, die für ein Projekt brennen, das es bisher noch nie gab. Markus Rex hätte mich bestimmt gut gebrauchen können. Wofür? Keine Ahnung! Aber der Gedanke daran kribbelt unter der Hirnschale.
Die Suche nach einer geeigneten Eisscholle als Ankerplatz geht weiter. Die „Polarstern“ ist auf Kurs in die zentralarktische Eiskappe. Mit einem der beiden BK-117-Helikopter erkunden wir die Gegend. Aber immer wieder erweist sich ein Landeplatz als ungeeignet: zu dünn, zu instabil und überall mit Meerwasser benetzt. Am 4. Oktober 2019, um 22:47 Uhr, ist es dann soweit. Die richtige Scholle ist gefunden. Der Kapitän Stefan Schwarze lässt mit sehr vorsichtigen Manövern die „Polarstern“ in das Eis hineinbrechen. Nicht zu stark, aber kräftig genug, um nicht zu früh stecken zu bleiben. Das Schiff ist nun im festen Eis zum Stehen gekommen, die Maschinen laufen im Leerlauf, wie ein Stein bewegungslos liegt sie da. Mit Suchscheinwerfern versucht Markus Rex von der Brücke aus die Eisscholle zu identifizieren. Alles scheint gut zu sein. Ich freue mich mit ihm zusammen, dass wir unser Zuhause für die nächsten Monate gefunden haben; für die lange Zeit der passiven Drift in westlicher Richtung über den Nordpol bis nach Spitzbergen. Es ist eine Reise in eine Welt, die bisher noch nie ein Mensch betreten hat. Und schon gar nicht zu dieser Zeit: die Arktis während der Polarnacht. Ich schaue in die Sonne. Zum letzten Mal geht sie auf und wieder unter und wird sich von nun an sechs Monate lang nicht zeigen. Dunkelheit umfängt mich, es ist spät geworden. Die ersten 60 Seiten habe ich gelesen, in einem Schwung, ich bin begeistert.
Extreme Temperaturen unter minus 40 Grad Celsius, starke Winde und brüchiges Eis erfordern immer wieder neue Lösungen. Die Corona-Pandemie stellt uns alle vor zusätzliche Herausforderungen. Das Mammutprojekt „MOSAiC" droht zu scheitern. Eindringlich schildert Markus Rex technische Details zur Ausstattung des Forschungsschiffs, beschreibt die durchgeführten Experimente und lässt den Alltag an Bord sehr anschaulich vor meinen Augen erscheinen. Die Atmosphäre in der fremden Welt ist so gut eingefangen mit seinen Worten, ich kann mich dem nicht entziehen. Will ich aber auch nicht, im Gegenteil!
Immer wieder besuchen Eisbären unser Camp auf der Eisscholle. Deshalb sind Eisbärwächter ein absoluter Sicherheitsfaktor, sie sind unsere Lebensversicherung. Der arktische Frühling ist inzwischen angebrochen, die Sonne scheint wieder, die Dunkelheit ist vorbei. Wir schreiben den 14. Juni 2020, es ist der 269. Tag. Viel ist passiert. Die Crew wurde zweimal ausgetauscht und das Team der zweiten Phase hätte Mitte März in Tromsø wegen Corona beinahe nicht runter vom Schiff gedurft. Die logistische Meisterleistung der Treibstoff- und Proviantübergabe sowie der Austausch der Crew im Ford von Spitzbergen ist schließlich die Lösung für das Fortführen der Expedition. Letztendlich funktioniert alles, aber was für eine Aufregung…
So könnte ich noch seitenlang weitererzählen, doch dann würdet Ihr das Buch vielleicht nicht mehr lesen wollen. Aber Ihr solltet es unbedingt lesen, es lohnt sich.
Hier noch ein paar Daten zum Buch:
„Eingefroren am Nordpol“, das Logbuch der „Polarstern“ wurde geschrieben von Markus Rex, dem Leiter der Expedition. Das Buch hat viele farbige Abbildungen, exklusive Fotos, Grafiken und Karten, ist 320 Seiten lang und kostet 28,00 € [D], 28,80 € [A], CHF 38,90* (Erscheinungstermin: 16. November 2020). Es ist gegliedert in fünf Teile, die sich an den Jahreszeiten orientieren und die Zeit an Land, u.a. während der Corona Quarantäne, beschreiben. Im Prolog reflektiert Markus Rex die Leistungen des großen Entdeckers und Polarforschers Fridtjof Nansen und im Epilog schildert er eindrücklich die Folgen des Klimawandels, die in der Arktis mehr als deutlich zu sehen sind. Dazwischen findet die geneigte Leserschaft 367 Tage voller Enthusiasmus für das Projekt und Demut vor den Wundern der Natur.
Das Aufmacherfoto wurde gestaltet unter Verwendung eines Motivs der Chimu Adventures
Und übrigens: Dieser Artikel wurde ohne Bezahlung, Vergünstigung oder Beeinflussung geschrieben. Weitere Informationen zu diesem Thema findet ihr auf unserer Seite Transparenz.