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Ich löse keine Probleme – Ich höre zu!

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Die Telefonseelsorge

Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Telefonseelsorge gibt uns Einblick in die Sorgen der Anrufenden und Auskunft über ihre eigene Gefühlswelt. Wir von grad60 konnten ein Interview mit ihr führen. Wir nennen sie Reni, da alle Mitarbeitenden der Telefonseelsorge unerkannt bleiben sollen.

Grad60: Bringt Corona mehr Anrufende?

Reni: Wir sind kostenfrei unter 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222 rund um die Uhr erreichbar. Eigentlich bimmelt das Telefon immer nonstop. Aber das Thema Corona ist in den Vordergrund gerückt. Also nicht die Krankheit und die Befürchtung sich anzustecken, sondern die Ängste vor Jobverlust und ganz besonders die Einsamkeit. Oma bekommt keinen Besuch mehr von den Enkeln. Die oft schon wenigen anderen Sozialkontakte sind eingeschränkt und dann gibt es keinen mehr, der da ist… Wobei alle anderen Themen nach wie vor präsent sind.

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Was sind denn so die Hauptthemen?

Viele sind psychisch krank und sie wissen es auch. Wir sind zum Beispiel für krankhaft Depressive eine Hilfe, wenn sie ihren Arzt nicht erreichen. Wir dürfen natürlich nicht behandeln oder gar zu bestimmten Medikamenten raten, aber wir hören zu! Und das hilft in der Not. Zur anderen großen Gruppe gehören Menschen ohne soziales Umfeld. Einsame Seelen, in Coronazeiten, aber auch schon davor.

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Unter anderem haben wir seit Jahren eine Daueranruferin, die alle ihre Schritte mit uns bespricht: Den Kauf eines Autos, einen Besuch im Restaurant und ihr erstes Date mit einem neuen Mann mit der Frage, wie weit sie gehen soll…

Wie kannst du helfen?

Ich höre zu! Es ist eigentlich unfassbar, wie das vermisst wird. Die Anrufenden sehnen sich nach einem Zuhörer und einem Gespräch. Eigentlich erwarten sie auch nicht unbedingt eine Lösung, sie wollen sich das Problem von der Seele reden. Und da können ich und meine Kollegenschaft bei der Telefonseelsorge helfen. Oft wüsste ich auch keine Lösung. Wie zum Beispiel bei der über 50-jährigen Ehefrau, die ihre Schwangerschaft als Ergebnis einer Betriebsfeier-Ausschweifung nach drei Monaten bemerkte. Sie war absolut verzweifelt. Sie wollte es weder ihrem Ehemann, dem klar wäre, nicht der Erzeuger zu sein, noch ihren erwachsenen Kindern beichten. Aus Angst von allen verlassen zu werden. Da bin ich an die Grenzen gestoßen, was soll ich ihr da raten? Die Frau sagte zum Schluss dann zu mir: „Ich weiß, Sie können mir nicht helfen, aber es war mir wichtig, es irgendwem zu sagen!“

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Es geht darum Lebenshilfe zu leisten. Wir versuchen, persönliche Probleme des Anrufenden abzubauen, selbst wenn es nur für den Moment ist.

Und dann habe ich einen etwa 80-jährigen Daueranrufer, eigentlich klar im Kopf, aber offensichtlich mit Wahnvorstellungen. Angeblich verfolgt und überwacht vom Geheimdienst, ruft er regelmäßig an, weil er jemanden braucht, der ihm zuhört. Allerdings, wenn man ihm signalisiert, dass man ihm nicht alles glaubt, wird er aggressiv und beleidigend.

Ich kenne das ganze Repertoire der „F“-Wörter-Beschimpfungen.

Musst du dir häufiger Beschimpfungen anhören?

Ich habe schon Schimpfwörter gehört, bei denen habe ich vorher gar nicht gewusst, dass es sie gibt! Ich kenne das ganze Repertoire der „F“-Wörter-Beschimpfungen. Wenn du abhebst, kann es auch der Sex-Anruf sein, inclusive pornografischer Geräusche und der Frage nach meiner Unterwäsche. Das ist manchmal so heftig, das halten dann auf Dauer auch nicht alle aus. Es haben schon einige meiner Kolleginnen deswegen aufgehört. 

Werdet ihr auf diese Sex-Anrufe oder Beleidigungen vorbereitet?

Wir haben regelmäßig Supervisionen und tauschen uns aus. Aber natürlich gehört auch ein „dickes Fell“ dazu. Ich nehme die Geschichten nicht mit nach Hause und kann sehr gut abschalten. Anders würde das auch nicht gehen. Und wir werden auch umfangreich in Gesprächsführung, Krisenintervention und Selbsterfahrung geschult, bevor wir an das Telefon gelassen werden. Zur Nervenberuhigung greife ich dann gerne in die immer gut gefüllte Süßigkeiten-Schublade. 

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Warum tust du dir das an? Helfersyndrom?

Nicht nur. Es bringt mich gut zurück auf die Erde. Ich merke, wie klein meine vermeintlich großen Probleme sind und manchmal kann ich mich sogar mit den Anrufenden austauschen. Das war nach meiner Trennung so. Da konnte ich mich sehr gut in die Sorgen von Alleingelassenen hineinfühlen und habe Vieles auf mich bezogen reflektieren können. Und ja, mir geht es gut und ich will der Gesellschaft auch etwas zurückgeben. Dazu gibt es gelegentlich auch sehr unterhaltsame Anrufe. Ein Mann berichtete zunächst von seiner Trennung, fing dann aber auch an, mit mir zu flirten und gab mir seine Handynummer mit der Idee: Man könnte sich doch mal unverbindlich zum Tanzen verabreden. Da ruft natürlich keiner an. Das geht auf keinen Fall.

Wer arbeitet denn bei der Telefonseelsorge?

Es sind überwiegend Frauen dabei. Ich würde sagen, etwa 2/3 sind weiblich. Die meisten sind so zwischen 50 und 75 Jahren alt. Also viele im Rentenalter, aber es gibt auch zum Beispiel jüngere Lehrerinnen und Lehrer und Angestellte. 

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Könnte ich da mitmachen?

In jedem Bundesland werden ehrenamtliche Mitarbeiter gesucht. Die Bewerbung geht ganz leicht online. Deutschlandweit bei der TelefonSeelsorge oder in Berlin bei der Kirchliche TelefonSeelsorge in Berlin und Brandenburg. Da kannst du auch genauer nachlesen, was dich erwartet.

Ich für mich sage, es ist ein absolut lohnenswertes Ehrenamt! Ich kann es eindeutig empfehlen! Eine verantwortungsvolle und erfüllende Aufgabe!

Vielen Dank für die interessanten Einblicke!

Kommentar von Erika: Danke für diesen Einblick und dass Ihr dieses Thema aufgreift. Ich bin den Ehrenamtlichen bei der Telefonseelsorge sehr dankbar, dass sie sich in dieser Weise für ihre Mitmenschen engagieren. Ohne solche Menschen wäre unsere Gesellschaft ein ganzes Stück ärmer.

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