Ohrwürmer mit Silberhaar
Sex and Drugs and Rock´n´Roll, das war es! Oder wie Joachim sagt: „Spaß, Geld und Weiber!“ „Ich habe meine erste Freundin bekommen, als ich das erste Mal auf der Bühne stand“, ergänzt Burkhardt.
Martin und ich besuchen die Band „Ohrwurm“ in ihrem Probenraum in Siemensstadt. Stringtangas fliegen heute wohl eher nicht mehr auf die Bühne. Obwohl? Was bei Mick Jagger denkbar ist… Der Rolling Stone trifft jedenfalls mit seinen 78 Jahren genau das Alter des Bassisten Joachim.
Gesang, Schlagzeug, Keyboard und E-Gitarre sind ein paar Jahre jünger. In ihren Augen funkelt es, als sie mit uns den Ausflug in die musikalischen 60er-Jahre starten. Dachluke, Eierschale, Riverboat: die einstigen West-Berliner Rock´n´Roll-Institutionen waren ihre Bühne. 15 DM gab es pro Stunde. Richtig viel Geld. „Mit Acht-Stunden-Auftritten am Freitag, Sonnabend und Sonntag war das im Monat mehr, als ich mit meinem Bankangestellten-Job verdient habe“, erzählt Joachim. 1966 kündigte er tatsächlich den Bankberuf, um mit seiner Band auf Tournee zu gehen. Nach einem halben Jahr war ihm aber klar, so ein Reise-Lodder-Leben ist auch nicht das Wahre, einschließlich der finanziellen Unsicherheiten. Die Bank nahm ihn wieder auf und die Musik nahm den Freizeitpart ein. Und vom Ende der 80er-Jahre haben wir ein schönes Foto von Joachim, als er bei “papas beat kapelle” den letzten Modeschick zeigte.
„Wir waren bei den wartenden Fans richtig angesagt, wenn wir mit den Gitarren durch das Treppenhaus hoch zur Dachluke sind. Da war die Stimmung zwar nicht immer so doll, aber zum Beispiel in der ,13’, in der Nähe vom Kottbusser Damm, gab’s bejubelte Auftritte.”
Norbert stimmt zu: „1971 habe ich geplant, mit Hardrock-Mucke bekannt zu werden! Die Haare reichten bis zur Hüfte und wir haben als ,Blackwater Park’ eine Schallplatte aufgenommen.”
„Ein paar Scheiben wurden verkauft und ich habe eine davon bei mir an der Wand hängen. Richtig gut lief das aber nicht! So habe ich lange Zeit bei den ,Gloomys’ und später bei ,Petticoat’ in der Freizeit Musik gemacht und meinen geregelten Lohn als Schlosser mit tiefen Augenringen verdient“.
Rainer, der Mann mit der Leadgitarre, sah sich von Anfang an als Hobbymusiker. „Ich habe ,Jimmy Hendrix’ bewundert, auch die ,Shadows’ und wollte einfach selber solche Musik interpretieren. Aber ich hatte nie die Idee, Profi zu werden.“ Er lacht: “Schon das musikalische Fundament hat für eine Weltkarriere gefehlt, es war reiner Spaß und etwas Nebenverdienst!“
Die Goldenen Zeiten waren dann Anfang der 70er-Jahre für Livebands ohnehin vorbei. Die Discotheken kamen auf. Überall gab es jetzt Musik von der Platte und die Auftrittsmöglichkeiten wurden rar. Gelegentlich noch mal etwas spielen in der Kneipe bei einem Verein, ohne große Verdienstmöglichkeit: „Da war die Zeche höher als die Gage!“
Wie hat sich denn nun „Ohrwurm“ gefunden? Eigentlich kennen sich fast alle untereinander aus alten Zeiten und fast jeder hat mit dem einen oder anderen schon zusammen vor dem Mikrofon gestanden. Oder man kennt sich aus der Szene. Burkhardt, der Neuzugang an den Drums, berichtet: “Wolfgang hat einen Schlagzeuger für ,Ohrwurm‘ gesucht und über einen Kumpel habe ich davon erfahren. Wir kannten uns auch von früher. Und so bin ich eingestiegen. Mit 70 Jahren ist Schlagzeug aber auch ein harter Job!“
Die Technik ermöglicht heute ja vieles. Was es da alles gibt, ist kein Vergleich mit den 60ern. Klar, die Verstärker und die Sound-Möglichkeiten eines Keyboards eröffnen neue Felder, aber ein echtes Schlagzeug ist eben doch was ganz anderes als die Rhythmusmaschine eines Computers, da sind sich alle einig.
Ganz deutlich spüren wir den Spirit der wilden Zeiten des Rock´n´Roll und sehen die Freude in den Augen, auch wenn die langen schwarzen Haare eher lichtem grauen Haar gewichen sind. Halt Ohrwürmer mit Silberhaar. Mit unserer Frage: „Was bedeutet euch denn die Band und die Musik heute?“, kommen wir dem Spirit von grad60.com ganz nah.
Wolfgang, der Bandleader am Keyboard, ist ebenfalls seit Jugendtagen auf den Bühnen Berlins unterwegs. Später hat er als Alleinunterhalter an der Orgel den verschiedenen Altersheimen eingeheizt. Mit seinem Sarkasmus witzelt er: „Man kann bei jedem Auftritt immer das gleiche Spielen, es sind ja jedes Mal neue Zuhörer da!“ Aber den Sarkasmus bezieht er auch auf sich: „Ich such‘ ja immer noch nach dem Durchbruch, ich bin optimistisch, wir haben ja noch Zeit bis 2030!“ Und er ergänzt ernsthaft: „Jetzt ist es ein Hobby, das mehrere Effekte hat: Freizeitbeschäftigung, Training der Motorik und Absterben der grauen Zellen verhindern. Selbstgemachte Musik hilft fit zu bleiben“.
Und dann berichtet er von etwas, das weit länger trägt als ein ausklingender Schlussakkord: Freundschaft! „Nach meinem Schlaganfall haben die Kameraden gut zu mir gehalten. Sie haben mich nicht fallen lassen!“ Etwas krächzend und unbeholfen bedankt sich Wolfgang in der Runde, fast so, als ob er es zum ersten Mal „offiziell“ macht. Kurz wird es ruhig im Kreis der Altrocker, um schnell wieder davon abzulenken: „Er spielt ja einhändig besser, als manch anderer mit zwei Händen!“
Früher haben sie sich die Autofahrten zum Übungsraum geteilt. Heute helfen sie selbstverständlich dem Bandleader Wolfgang und nehmen ihn mit dem Auto zu den Proben in den Räumlichkeiten am Siemensdamm mit. Hier, in der der Alten Feuerwache, bietet der Siemens-Kulturkreis mehreren Bands die Möglichkeit, kostenfrei zu proben. „Eine Riesenhilfe, über die wir sehr dankbar sind“, sind sich alle einig.
Aber Proben ist das Eine, ein Auftritt das Andere. Immer nur Üben ohne Bühnen-Performance, ist wie eine Suppe ohne Salz. Eine Speise, die seit Corona nicht mehr auf den Tisch kam, wie alle bedauern. Üblicherweise reichen 30 Titel für ein ordentliches Repertoire. Jeder hat Vorschläge aus seinen alten Bandtagen. Gemeinsam entscheiden die Ohrwürmer dann, was davon geht. Für die Auswahl sind nicht unbedingt die Fähigkeiten am Instrument das größte Hindernis, sondern oftmals der mehrstimmige Gesang: „Und damit wird es bei den ,Beatles’ schwierig. Genau wie bei den ,Bee Gees’. So einen dreistimmigen Falsettgesang bekommen wir nicht hin!“
In ihrem Repertoire gibt es eine bunte Mischung von „That’s Nice“ aus dem Jahr 1966, gesungen von einem gewissen, inzwischen gänzlich unbekannten Neil Christian, „Another Brick in the Wall“ einer deutlich bekannteren Band “Pink Floyd“ und als höchste Kunst die „Eagles“ mit „Tequila Sunrise“. „Uns ist schon klar, dass wir das nicht eins zu eins kopieren können. Wir haben mit Norbert unseren Caruso, der ordentlich Pfeffer gibt bei ,Keep on running‘ oder ,Born to be wild‘. Das sind aber Stücke für einen Solosänger“.
Einem „Bei Satisfaction habe ich mich immer auf den Rücken geschmissen…“ folgt der Zwischenruf: „Wir haben da aber kein Kissen liegen…“ und so ist für Martin und mich ganz deutlich zu spüren, hier ist mehr vorhanden als nur eine Gruppe, die zufällig miteinander Musik macht. Die Ohrwürmer haben ihre Freude und ihren Ehrgeiz, die Musik ihrer Jugend so gut wie möglich zu interpretieren.
Jetzt fällt allen noch ihr Lieblingsstück ein und fasziniert hören wir die Musikgeschichten einer Band, die sich gefunden hat und mit Spaß, Vergnügen und freundschaftlichen Witzeleien zusammenhält. Komme, was da wolle.
Wie sagt Wolfgang lächelnd: “Was wir produzieren, steht nicht dumm wie eine Vase im Regal herum. Wenn die Musik aufhört, ist sie entschwunden…!“
Wir hoffen, dass ihr noch lange euren Sound in die Welt hinaustragt. Wir drücken die Daumen, dass es auch mal wieder auf einer Bühne möglich ist. Der Applaus ist schließlich aller Künstler Lohn und Brot. Und ihr seid einfach zu gut, um immer nur im stillen Kämmerlein zu proben. Aber schaut selbst:
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