Radtour nach Jüterbog
Mich sticht der Hafer. Ich muss den Radlerhosen-Polster-Arsch testen, die Beinmuskeln reizen und die alte Blutpumpe durchspülen. Das Fahrrad hat lange genug im Keller gerastet. Es soll mit mir auf den Langstrecken-Prüfstand. Meine extreme 2.600km-Radtour nach Barcelona ist einfach zu lange her. Die Episoden über Rhein-Radweg, Eurovelo in Frankreich und die Überquerung der Pyrenäen machen mich heiß. Wenn die Corona-Reisebeschränkungen fallen, will ich wieder los. Das Ziel ist noch unbekannt, aber sicher nicht um die Ecke. Heute ist das natürlich anders. Ohne Übernachtungsmöglichkeit muss ich ja abends wieder zurück. Daher wird es „nur“ das 95 Radkilometer entfernte Jüterbog. Nach wenigen Metern auf dem Teltowkanalweg in morgendlicher Kühle grinse ich fröhlich in meinem roten Barcelonabegleiter.
Ach wie tut das gut. Der Weg am Wasser verläuft abseits von Autostraßen und lässt sich trotz einiger Ausflügler zügig befahren. Mein Körper sehnt sich nach der Bewegung, als ob er sich noch an die Freuden der Fernfahrt erinnert. Teltow ist schnell erreicht und einige Hauptstraßen vertiefen in mir die Autoabneigung eines Radfahrers, obwohl sich alle vorbildlich verhalten. Aber der Lärm, der Gestank… Das Bild ändert sich, als ich die Doppelzäune der Haftanstalt Heidering passiere. Ich biege auf einen Plattenweg ab. Die ersehnte Ruhe gibt es zusammen mit unregelmäßigen Fugen-Stößen auf meinen Körper. Ich komme nicht mehr so schnell voran, habe dafür aber die wankenden Gräserwedel im Blick.
Nach bisher 24 gefahrenen Kilometern spuckt mich der Feldweg kurz vor dem Schloss Genshagen wieder auf asphaltierte Wege aus. Ich stoppe an der Mauer des 1700 entstandenen Herrenhauses, das natürlich mehrfach um-, aus- und angebaut wurde. Zeitweise stand es auch als Flüchtlingsunterkunft zur Verfügung: 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg (!). Heute ist es Veranstaltungshaus, wenn Corona es zulässt. Sonnenangestrahlt lugt es da über die rote Ziegelmauer und bietet den perfekten Rahmen für eine Trinkpause.
Die Strecke führt jetzt weitestgehend durch straßenferne Natur, begleitet von kleinen, trägen Fließen neben frisch gedüngten Feldern. Schweinegülle beißt gelegentlich in der Nase. Der Kieferngeruch hält sich noch stark zurück und auch die Schlüsselblümchen fallen nicht unbedingt durch ihren starken Duft auf. Dafür bestechen sie durch ihr kräftig leuchtendes Dunkelblau.
Bei Sperenberg biege ich auf einen straßenbegleitenden Radweg ein. Zum Glück besteht der Belag aus feinstem, glatten Asphalt und es donnern nur wenige Autos auf der schnurgeraden Strecke vorbei. Rechts von mir sperrt ein Zaun das ehemalige militärische Übungsgelände ab. Hier draußen sollte der Berliner Großflughafen gebaut werden, es kam bekanntlich anders. Hinter der Absperrung ragen mehrere verfallene Gebäude hervor, an die ich über eine stillgelegte Bahnstrecke näher herankomme. Der Blick durch das Tor eröffnet die Sicht auf ein stattliches Gebäude: die Heeresversuchsanstalt Kummersdorf. Menschenleer und ungenutzt. Wäre ein wunderbarer verlassener Ort für unsere Geschichten über die „Zehn unentdeckten Kleinode von Berlin und anderswo“.
Nach nunmehr 60 Kilometern on Tour brubbelt mein Muskelmotor: “Hej, nicht nur Kalorien verbrennen, ich brauch‘ Futter!“ Das Versprechen auf Betankung mit geschmierten Brötchen und Salatgurke beruhigt ihn etwas. Ich verrate aber noch nicht, dass das erst in 20 Kilometern soweit ist. Denn dort folgt das Highlight der Tour: die Flaeming-Skate. Ein 230 Kilometer-Wegesystem der Extraklasse für Skaterinnen und Skater. Aber auch für Radfahrende schlängelt sich feinster Asphalt durch Wälder, Wiesen und Felder. Wie versprochen biege ich am ersten Waldweg zum Tankstopp und ausgiebiger Sonnenrast ab.
Es ist wirklich einzigartig, was hier im Fläming entstanden ist. Der Belag besteht aus einer besonders fein gekörnten Asphaltschicht, die Skates gleiten und Fahrradreifen „schnurren“ lässt. Dazu führen die breiten Wege durch reizvolle Landschaft und ziehen sich auch in 1A-Qualität durch die kleinen Ortschaften. Hier ist endlich mal der motorisierte Verkehr nur nebenbei geduldet. Diese Bevorzugung der muskelbetriebenen Fahrzeuge lockt bei schönem Wetter schon einige Genießerinnen und Genießer an. Sportskatergruppen zischen in Windschattenfahrt vorbei, Vierjährige staksen mit den Inlinern auf der Strecke entlang und Fahrräder mit Anhängern zuckeln die gelegentlichen Anstiege empor. Die drei Meter breiten Wege und die entspannte Stimmung lassen für jeden genug Platz.
Was für ein Genuss bei diesem herrlichen Sonnenschein. Nur etwas Wind, natürlich von vorne, lässt mich langsam die 95 Kilometer spüren. Fröhlich und ohne größere Beschwerden erreiche ich mein Ziel: Jüterbog. Nach Maracuja-Joghurt und Schoko-Mozart, natürlich nur in der Waffel, kutschiere ich mit meinem Rad zum Bahnhof. Jede halbe Stunde düst ein Regionalexpress zurück nach Berlin. Anstatt meiner sieben Stunden schafft er es in 40 Minuten zum Südkreuz. Bequem auf dem Polstersitz schaue ich mir die Fernfahrt-Generalprobe noch einmal auf meiner Handy-App an. Wäre ein schöner Start zu fernen Zielen gewesen.
Und wer jetzt noch 60 Sekunden Zeit hat, den nehme ich live mit auf meine Tour:
(Beim Klick auf das Bild wirst du zu YouTube weitergeleitet)
Kommentare:
Katrin: Lieber Thommy,
wie schon häufig, verfolge ich deine und eure Ausflüge und Erlebnisse. Es macht immer wieder Spaß und Lust auf eigene Aktivitäten. Macht weiter so!
Lieben Gruß
Katy K.
grad60: Liebe Katy, vielen Dank. Wir geben uns weiter Mühe, Interessantes zu finden. Liebe Grüße