Frank und die Stolpersteine
Wir freuen uns immer total, wenn Menschen an uns herantreten, weil sie unseren Blog spannend finden und uns dann erzählen, was sie alles machen. So habe ich im Frühjahr 2021 Frank Müller und seinen ersten Roman kennen- und schätzen lernen dürfen. Ein klasse Typ und interessanter Autor. Ich möchte ihn und seine Geschichten euch näherbringen und euer Interesse wecken. Aber lest doch bitte selbst:
Die Stolpersteine von Flora Epstein und Camilla Becker liegen vor dem Haus, in dem Frank wohnt. Die Nazis haben Flora 1942 nach Theresienstadt deportiert und in Treblinka ermordet; Camilla wurde 1943 nach Auschwitz gebracht und dort getötet. Frank wohnt in dem Haus in der Motzstraße jetzt schon viele Jahre und macht sich oft Gedanken über diese beiden Frauen. Sie sind für ihn fast zu Familienmitgliedern geworden. Eines Tages überlegt er, ob eine von ihnen wohl in seiner Wohnung gewohnt hatte? Da er es natürlich nicht weiß, beginnt er zu recherchieren. Bald hat er einiges herausgefunden und ist bestürzt, denn die braune deutsche Geschichte hat auch vor diesem Haus nicht Halt gemacht. Er fühlt sich in seiner eigenen Wohnung nicht mehr wohl bei dem Gedanken, dass man vielleicht eine der beiden Frauen daraus deportiert hat. Langsam entsteht aus diesem Gefühl in seinem Kopf die Geschichte um einen verfolgten Juden, die er unbedingt zu einem Roman verarbeiten möchte.
Der Blick aus seiner Küche geht auf den Hof, der alte Weinstock am Haus rankt es im Sommer fast zu. Ein Paradies für die Spatzen, die ihn und seinen Mann in den Frühlings- und Sommermonaten bei offenen Fenstern mit ihrem Tschilpen deutlich vor Sonnenaufgang wecken. Eine Stunde der Spatzen. Eine frühe Stunde, die für die Nazischergen die grausame, wehrlose, scheinbar „richtige“ Stunde für das Abholen der Juden aus ihren Wohnungen war. So wie für Flora und Camilla. Und weil sein erster Roman auch mit dem Herausreißen aus der vertrauten Umgebung zur Nachtzeit beginnt, trägt er diesen Titel: „Die Stunde der Spatzen.“
Frank ist ein später Schreiber. Erst nach rund zweitdrittel seines abwechslungsreichen Lebens verdichten sich die Ideen zu dem Roman. Die ersten zwei Kapitel schreibt er schon zu der Zeit, als er noch in seinem Beruf aktiv ist, kommt aber wegen der anstrengenden Arbeit als stellvertretender Schulleiter nicht dazu weiterzuschreiben. Den entscheidenden Anstoß liefert sein Herzinfarkt, der ihn 2016 fast das Leben kostet. Da ist er 64 Jahre alt und arbeitet sein tägliches Trainingsprogramm in der Reha ab, als ihn eine Depression erfasst. Eine Psychotherapeutin fragt ihn daraufhin, was er in seinem Leben noch gern machen würde und er antwortet: „Einen Roman schreiben“. Ihre Antwort: „Now or never!“
Also arbeitet er seine ersten Buchkapitel um, trifft bei seiner Recherche auf Menschen, die die Biografien der Verfolgten zusammentragen, webt Autobiografisches und Erzählungen von historischen Augenzeugen in den Roman mit ein. Sein eigenes Leben als schwuler Mann, seine Wohnsituation mit den Stolpersteinen, die erste und berühmteste Travestiebar „Eldorado“, die es früher in der Motzstraße gab, und vieles mehr sind Orientierungspunkte. So bekommt sein Roman teilweise eine homosexuelle Handlung, es ist aber kein explizit queeres Buch.
Robert Neuhäuser, einer der beiden Protagonisten seines ersten Romans, ist ein karriereorientierter junger Architekt, dessen erfolgsverwöhntes Leben in Hamburg durch eine Hodenkrebserkrankung zerbricht. Sein bisheriger Lebensentwurf zerbricht, nachdem auch seine Beziehung zu Susanne an der Krankheit scheitert. Sein Scheitern und die innere Leere äußern sich in Fantasien über einen imaginierten, verlorenen Zwillingsbruder, dem er alle Eigenschaften zuspricht, die ihm fehlen. Er flüchtet nach Berlin.
Der Stolperstein von Eduard Herschel vor seinem Haus lässt Robert nicht ruhen. Er fragt sich, ob dieser Eduard in derselben Wohnung gewohnt haben könnte wie er. Im Laufe der Nachforschungen findet er in Eduard, der so alt war wie Robert heute als er deportiert wurde, immer mehr den verlorenen Zwillingsbruder.
Das in einer offenen Ehe lebende Paar Eduard und Martha Herschel ziehen Anfang der dreißiger Jahre in das Haus, in dem Robert heute lebt. Eduard hat homosexuelle Neigungen, die seine Frau Martha akzeptiert, und freundet sich gleich zu Anfang mit dem Mieter Max Weise an, der in der Wohnung unter ihm wohnt, behält aber sein Interesse an Max zunächst für sich. Der ist verheiratet mit Eva, einer deutschtümelnden und herrschsüchtigen Frau. Nach einigen erfolglosen Versuchen, zu viert gemeinsame Abende zu verbringen, sieht Eduard eines Abends in der Travestiebar „Silverdollar“ Max und Eva im Publikum. Er tritt dort selbst gelegentlich als Frau verkleidet auf, daher erkennen sie ihn nicht. Doch für Eduard wird klar, dass Max auch schwul ist und schon bald gehen beide eine heimliche Beziehung miteinander ein.
Frank hat mir erzählt, dass er unterwegs oft Einfälle in seinem Handy notiert. Gedanken, Worte, Formulierungen und Bilder dürfen nicht verloren gehen. Irgendwann braucht er sie vielleicht für seine Geschichten. Mit Sprache und Texten kann er gut umgehen, das war immer Teil seiner Arbeit. Sie kulturell und literarisch einzuordnen, gehörte zu seiner Lehrtätigkeit. Seinen Texten merkt man an, dass er studierter Germanist und Wirtschaftsfachmann ist. Sie reduzieren sich auf das Wesentliche, entwickeln zielgerichtet die Spannung und verzichten auf Überflüssiges. Beim Schreiben bedient er sich vorher konzipierter Kapitelstrukturen. Personen-Mindmaps helfen ihm, den Aufbau im Auge zu behalten. Nach vollbrachten Tagewerk und bei einem guten Glas Wein redet er dann oft mit seinem Mann Marek über die eine oder andere Szene.
Frank Müller wird 1952 in Hannover geboren. Sein Comingout hat er während seines Studiums in Hamburg im Sommer 77, als er eigentlich wegen der attraktiven weiblichen Bedienung in der Bar „Schramme“ häufig ein Bier trinken geht, sich letztlich aber in Dieter, den Mann hinterm Tresen, verliebt. Ziemlich unverhofft, aber nachhaltig und recht spät mit 25, gewissermaßen auf dem zweiten Bildungsweg.
Nach dem Studium arbeitet er in Hamburg als Berufsschullehrer, bevor er 1992, im Jahr der Olympiade, Schulleiter einer deutschen Berufsschule in Barcelona wird. Diese hinreißende Stadt lässt ihn nie wieder los. Immer noch hat er dort eine Wohnung und verbringt mit seinem Mann viel Zeit im Jahr in der kosmopolitischen Hauptstadt Kataloniens. Seine Bücher erhalten hier ihren letzten Schliff, oft auf der Terrasse.
Dass er 2004 stellvertretender Schulleiter der Staatlichen Ballettschule Berlin und Schule für Artistik wird, ist wirklich kaum zu glauben, aber wahr. Das Leben bietet ihm noch eine neue Herausforderung. Er beginnt den letzten Teil seiner pädagogischen Arbeit als Organisator schulischer Prozesse in einer der wichtigsten kulturellen Einrichtungen für junge Menschen in Berlin. Neben der inhaltlichen Konzeption von Shows sorgt er dabei auch für das nötige Wissen zur Vermarktung der artistischen Ergebnisse und Leistungen. Außerdem ist er verantwortlich für den Neubau der Ballettschule, der zu einem der gelungensten Gebäude für Tanzausbildung weltweit wird.
Heute hält er sich mit täglichem Work out, Wanderungen und Fahrradfahren körperlich fit. Die Synapsen trainiert Frank mit dem Entwickeln neuer Romanfiguren und Plots. Auch die notwendigen Recherchen für seine Bücher sind ein gutes mentales Training. Ihre Reisen bringen Frank und seinen Mann Marek oft auf entlegene Inseln, wie die Lofoten und fast unentdeckte Orte, wie das Innere von Vulkankratern.
Seinen Roman „Die Stunde der Spatzen“ können wir bei Amazon kaufen. Und eine Kostenlose Leseprobe der ersten 20 Seiten gibt es dort auch. Weitere seiner Arbeiten sind „Der Lauf der Gezeiten“, „Road to Kairos“ und „Die Klarheit des Wassers“. Sie harren noch ihrer Veröffentlichung. Wenn es soweit ist, werden wir die Texte besprechen, auf jeden Fall. Und zurzeit sitzt er an seinem fünften Roman über einen Flüchtlingsschlepper. Na dann, weiterhin viel Erfolg, lieber Frank!
Und an alle anderen Leser*innen: Macht es ihm doch bitte nach und schickt uns eure Geschichten und Bilder. Wir warten darauf und freuen uns jetzt schon. Einfach Mail an info@grad60.com
Und übrigens: Dieser Artikel wurde ohne Bezahlung, Vergünstigung oder Beeinflussung geschrieben. Weitere Informationen zu diesem Thema findet ihr auf unserer Seite Transparenz.