Achteinhalb vs. viereinhalb
Ein Gastbeitrag von Ulli Trützschler: Mit dem Motorrad von der neuen in die alte Heimat – und zurück
Es war die Erfüllung eines langersehnten Wunsches, als ich Ende 2018 das Projekt „Motorradführerschein“ angegangen bin. Eigentlich wollte ich ihn 1993 direkt in Kombination mit dem damaligen Klasse 3 „Lappen“ machen. Aber Mama wollte das nicht so gerne. Und so ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, bis ich es dann doch umgesetzt habe. Zwar durfte ich mit dem alten Führerschein eine himmelblaue Schwalbe fahren und auch in der Folgezeit war es immer wieder ein Roller, der in den Hausstand kam, aber es war nun mal kein Motorrad. Es war nur das kleine “brumm”, ich wollte aber das große “BRUMMMM”! Warum? Es gab immer wieder Hindernisse. Mal keine Kohle. Mal keine Zeit. Aber nun ist es endlich soweit.
Theoriestunden besucht, Wissen gebüffelt, Praxis erlernt, Fahrprüfung bestanden und dann mit weiblicher Unterstützung eine schöne Maschine erstanden. Knapp 700 cm³ Hubraum, ausreichende 76 PS, durch den Fachhändler schon perfekt aufgehübscht: meine “Maha”. So wurde aus „Ulli, der Rollerfahrer“ „Ulli, der Motorradfahrer“.
Waren es in 2019 die kleinen Touren ins Berliner Umland, so will ich nun meine neue „Prinzessin“ gerne in meine „alte“ Heimat ausführen. Der winzige Haken an der Sache ist die Entfernung: 450 km liegen zwischen der Hauptstadt und der kleinen Gemeinde Mettingen im nördlichen Westfalen. Kein Pappenstiel. Und bereits mit dem Auto, wenn es gut läuft, eine Fahrtzeit von selten unter vier Stunden. Auf der Autobahn. Der Reiz auf zwei Rädern liegt aber in der kurvenreichen Strecke. Und so arbeite ich mich in die Navigations-App „Calimoto“ ein, mit der ich nicht nur „Vias“ (Wegpunkte) setzen, sondern auch bestimmen kann, wie kurvig die Reise sein soll. Super!
Und dann ist es soweit. Der bekloppte Virus hat unser Land zwar immer noch im Griff, aber ich habe Urlaub und es ist mal wieder Zeit für einen Besuch bei Mama im Altenheim.
Um ein Gefühl für das Gepäck auf dem Rücken zu bekommen und um etwas Strecke zu machen, fahre ich die ersten 120 km erstmal auf der Autobahn. Zwei Bundesländer später, bei Burg-Ost, biege ich auf die Landstraße ab. Nun heißt es App aktivieren und Kopfhörer ins Ohr, um die Fahrtanweisungen zu hören. Und ich bemerke nicht zum ersten Mal den wichtigsten Unterschied zum Fahren mit dem Auto: ich bin permanent an der frischen Luft. Alles ist näher. Rings um mich herum duftet es mal zart oder mal stärker, wie zum Beispiel an der “Ersten Deutschen Knäckebrotbäckerei” in Burg. Ab und an rieche ich etwas Zwiebeliges wie nach Knoblauch, vielleicht auch nach Bärlauch oder es schnuppert herrlich nach Feldern und Wiesen, die mich rechts und links begleiten. Raps und Kornblumen geben Ihnen wundervolle Farben. In waldigen Passagen vom Harz inhaliere ich die Aromen der frischen Anschnitte von Forstarbeiten, wie in der Sauna. Alles „for free“ und nahezu 100% Bio…hoffe ich zumindest. Ich freue mich über den kurvigen, überraschenden Streckenverlauf, bis nach 30 Minuten die erste Zwangspause erreicht ist. An der plötzlich vor mir liegenden Elbe geht es nicht weiter. Die Straße verläuft quasi im Sand.
Und die notwendige Fähre befindet sich in der Mittagspause von 12:00 bis 13:00 Uhr auf der anderen Seite. Es ist gerade kurz nach 12. Also absteigen, Motor aus, Helm runter und das tolle Panorama genießen. In buchstäblicher Ruhe mit einer kostenlosen Entschleunigung im Sonnenschein. Neben mir steht nur noch der Kastenwagen eines Handwerkers.
Ganze drei Euro will der Kassierer vom Fährmann für Motorrad und Fahrer haben. Ich finde: ein Schnäppchen. Ich genieße die fünf Minuten Überfahrt auf der gemütlich daher kommenden Elbe, um sogleich die Ortschaft Rogätz wieder zu verlassen und weiterzureisen. Immer geleitet von der Stimme aus meinen Ohrhörern. Es macht mir Spaß, über Kreisstraßen zu fahren und nicht die Monotonie von Autobahn und Landstraße um mich zu haben.
Um Magdeburg herum noch recht flach, geht es bald in die höheren Gefilde Sachsen-Anhalts. Immer Richtung Westen zur ehemaligen innerdeutschen Grenze. Zwischen Beendorf und Bad Helmstedt überquere ich sie fast unbemerkt. Jetzt bin ich im oft von Berlinern bezeichneten Westdeutschland und halte mal kurz neben einem schlafenden Löwen unter malerischen Bäumen an.
Weiter geht es an Orten vorbei, die sonst immer nur auf den blauen Autobahnschildern in weißer Schrift auftauchen und nun plötzlich schwarz auf gelb zu lesen sind. Haldensleben, Süplingen und Süpplingen. Irgendwie bekannt, aber dennoch völlig unbekannt. Weil die Autobahn sonst nur wegen Stau oder zum Tanken verlassen wird und man selten weiter rein in die „Gegend“ fährt.
Nach viereinhalb Stunden und ca. 250 km ist es dann soweit…ich muss tanken. Da mich auch die Blase ein wenig drängt, hoffe ich auch hier auf „Support“. Aber nix da. Es ist Corona-Zeit und die Kundentoilette ist Verbotszone – leider. Also gibt es die Erleichterung erst ein wenig später in der Natur. Weit genug weg vom Wasserschutzgebiet…
Körperlich erleichtert geht es weiter durch die Lande. Nach ungezählten Kurven und wundervollen Alleen treffe ich auf ein erneutes Highlight – Schloss Marienburg. Leider ein wenig zu spät an diesem Tag, denn ich habe noch 150 km vor mir. Aber es gibt mir den Anlass, demnächst für eine Schlossbesichtigung und Turmbesteigung hier abzuzweigen und meinem Cousin um die Ecke die „Ehre zu erweisen“.
Meine Reiseuhr tickt weiter und mein Hintern macht sich ein ums andere Mal deutlicher bemerkbar. Auch wenn ich meine Maschine liebe, kommen mir doch immer wieder die Reiseenduros entgegen und ich denke…ach, egal. Allerdings entschließe ich mich ob meiner nachlassenden Kondition in Rinteln wieder auf die Autobahn zu wechseln, um den Rest ohne Ansagen von der „Navi-Uschi“ zurückzulegen.
Knappe 100 km sind es noch und nachdem ich über die neue Umfahrung von Bad Oeynhausen auf der nur noch zweispurigen A30 Richtung Amsterdam unterwegs bin, macht sich auch dieses schöne Gefühl von „nach Hause kommen“ breit. Unter dem Ortsschild muss ich natürlich erstmal ein Erinnerungsfoto mit meiner Maschine machen – wie es sich halt so gehört.
Danach geht dann auch nicht mehr viel. Noch ein kurzer Schnack mit Onkel und Tante, meinen „Gasteltern“, eine Kleinigkeit essen und ab in die Falle. Angekommen in der Heimat, habe ich gut zu tun: Mama im Altenheim besuchen, mit dem Patenkind eine Runde drehen, mit den Jungs ’nen Bierchen zischen. Es wird mir bis zum Tag der Abreise nicht langweilig.
Das Zeitfester für die Rückfahrt an diesem Sonntag ist aber kürzer und es soll fast nur über die Autobahn gehen. Es wird eine komplett andere Tour. Um nicht gelangweilt von der Monotonie der langen geraden Straßen zu sein, höre ich Musik. Die fantastischen Vier – mal live, mal direkt, aber auf jeden Fall was zum Mitsingen und gute Laune Behalten. Zumal einige der Songs schon fast Oldies sind und mich an vergangene Konzerte und Zeiten erinnern. Ein Vorteil der Fahrt an einem Sonntag ist der geringe LKW-Verkehr. Vor, parallel zu und hinter den Boliden spürte ich den Wind doch merklich und ich muss mich auf mein Gefährt konzentrieren. Neben der obligatorischen Tankpause lege ich einen Stopp am ehemaligen Grenzübergang Helmstedt/Marienborn ein, wo die 50 Tonnen schwere Skulptur “La voûte des mains” mit ihren ineinandergreifenden Händen symbolisch an die deutsche Einheit erinnert.
Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich der ehemalige Kontrollpunkt Helmstedt bzw. die Grenzübergangsstelle Marienborn als 7,5 ha große Gedenkstätte der Deutschen Teilung. Leider beunruhigt mich das Wetter und ich beschließe, bei einer der nächsten Fahrten hier länger zu stoppen, zu schauen und zu schaudern.
So düse ich die Hügelkuppe wieder hinunter, Magdeburg entgegen, wo der wunderschöne Dom sich immer schon aus der Ferne emporhebt. Bei der Fahrt über die Elbe kommen mir dieselben Worte wie immer über die Lippen: Rechts die Elbe…links dasselbe. Grinsen. Feixen. Freuen. Wenn auch allein im Helm. Ich durchfahre Autobahnbaustellen angenehmer als mit dem Auto, denn ich habe mehr Platz auf den engen Spuren, egal wie breit das Fahrzeug auf der Nebenspur auch ist.
Und je näher ich Berlin komme, desto mehr wachsen die Sorgen wegen des Wetters. Regen möchte ich einfach nur sehr ungern haben. Nach vier Stunden auf dem Motorrad habe ich dann aber ab dem Dreieck Werder fast mein Glück der Trockenheit aufgebraucht. Es hat geregnet, aber der Regen ist schon durch und es ist „nur“ die Nässe, die meine Vorausfahrenden und ich selber aufwirbele. Auch nicht schön, aber ich sage mir: „Ist ja nur die Hälfte nass“ und denke an den Spruch: „Beim Spaziergang im Regen fällt das meiste eh‘ vorbei“.
Am Dreieck Nuthetal geht es dann links ab und ich kann die Berliner Luft quasi schon spüren, auch wenn sie eher aus Potsdam weht. Aber dieser Teil ist dann wirklich ein Schlussspurt und das Gefühl ist perfekt, als mich der „BerlinBreakdancebär“ in Dreilinden „begrüßt“. Bei dem Wetter bleibe ich nicht auf der Avus und fahre Hüttenweg raus. In der Königsallee tanke ich noch ein wenig innerstädtische Waldluft, um dann gemütlich in den Hof zu rollen. Jetzt nur noch das Motorrad abstellen, aus den Klamotten pellen und den Restsonntag genießen.
Mein Fazit: Beide Touren sind irgendwie toll. Die eine schnell und zielführend. Die andere besser auf zwei Tage verteilt und mit mehr Stopps an Sehenswürdigkeiten. Aber ich werde es noch einmal tun. Gibt ja genug Stellen, an denen ich noch halten muss. Bald…ganz bald!