Sherpa auf dem Stoffmarkt
Heute schreibe ich mal über den holländischen Stoffmarkt, über meine Erfahrungen als Sherpa meiner Frau und -vor allen Dingen- über die genialen Gedankentricks selbiger.
Seit britische Extremsportler, Entdecker und Abenteurer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Männer aus dem Volk der Sherpa als Träger im Himalaya angeheuert haben, wird der Name Sherpa häufig synonym für Hochgebirgsträger verwandt.
Ich bin der Träger der Stoffbeute, zwar ohne Hochgebirge, aber es ist fast genauso anstrengend.
Was ist "Stoffmarkt Holland" überhaupt?
Holländische und deutsche Händler touren über das Jahr durch verschiedene Städte und bieten dabei Stoffe, Knöpfe, Bänder, Schnittmuster und viel anderes Nähzubehör an. Auch örtliche Stoffhändler sind dabei. In einigen Städten ist der holländische Stoffmarkt bis zu drei Mal im Jahr. Wir sind in Potsdam.
Meine Frau sagt, dass es sehr viele verschiedene Stoffe gibt, die wunderschön sind und dass man, wenn man nicht aufpasst, sehr viel Geld ausgibt. Ich weiß nicht, ob meine Frau irgendwie Obacht walten lässt. Ich glaube, eher nicht. Sie sagt, dass sie vorher zwar genau überlegt, welche Stoffe sie braucht und dass sie eine Liste macht, wie viel sie im Stoffladen ihres Vertrauens kosten, aber dann doch irgendwie überwältigt ist und sich treiben lässt. Und wenn sie dann im Flow ist …
Natürlich ist der Stoffmarkt für seine niedrigen Preise bekannt, dennoch sind einige Stoffe auch ziemlich teuer, sagt sie, die beste Ehefrau von allen. Zum Beispiel hatte sie für ein neues Frühlingskleid einen blauen Baumwollstoff mit kleinen weißen Punkten geplant. Diesen Stoff hatte sie für 6,90 Euro schon mal in einem Stoffladen am Alex gesehen. Auf dem Markt gibt es ihn heute aber nicht für unter 7,00 Euro. Dieser Stoff ist aber hier auf dem Markt ein Viskose-Jersey (?) und der würde im Laden mindestens fast 10,00 Euro kosten. Da ist sie sich ganz sicher, auf dem Holland-Markt kann sie ihn jetzt für 8,00 Euro bekommen.
Und dann ist da dieser Bienenstoff, wie niedlich …
“Und, wie findest du ihn?" Na kaufen, sage ich. Hat sie aber nicht.
Ich begleite meine Frau sehr gerne auf den "Stoffmarkt Holland", denn es ist praktisches Sozialstudium, sozusagen eine Outdoor-Exkursion für eine Masterarbeit im Studienfach Soziologie. Nun studiere ich dieses Fach nicht, aber es ist auch für mich spannend. Frauen unter sich, Männer nur als Träger oder Kommentargeber: „ … ja sieht gut aus, wird dir bestimmt super stehen, nein, macht nicht dick, …“
Erstaunlich, sie hauen sich nicht, die Frauen, aber manchmal denke ich, au weia, gleich geht’s los. Ob sich die Protagonistinnen dieses Schauspiels, dieses Zurschaustellens ihrer Rollen bewusst sind? Nein, ich bin mir sicher, nein. Ich glaube, sie genießen es mit latenter, unterschwelliger Angst, die Beute dann doch nicht nach Hause bringen zu können, weil die Andere schneller war oder einfach nur brutaler vorgegangen ist.
Es gibt übrigens immer auch eigenartige Sachen zu bestaunen, für mich jedenfalls eigenartig:
Oder Sachen, die absolut old fashioned sind:
Und was machen die Holländer, die ihre Stoffe loswerden wollen? Die sind cool, sehr cool, weil sie genau wissen, es läuft. Es läuft immer, so wie auch heute. Ich habe mal einen Blick in die Nachschubgasse zwischen den Ständen geworfen. Da, wo die Stoffbahnen aus den unterirdischen Kellern ständig nachgelegt werden. Beeindruckend, sage ich euch.
Wie schafft man es eigentlich, die Frau nicht aus den Augen zu verlieren? Ganz einfach: Ziemlich genau in der Gangmitte bleiben, je nach Stärke des Gegenverkehrs etwas mehr nach rechts einordnen. Die Frau von hinten beobachten, niemals aus Unachtsamkeit vorbeilatschen, während sie Stoffe ordert. Der Kontakt darf nicht abreißen; das schafft man eigentlich nur aus der rückwärtige Beobachterstellung. Und was ist, wenn sie mal weg ist? Nerven behalten, die kommt wieder, nämlich bei der nächste Runde, kann aber etwas dauern. Inzwischen bestaune ich die sehr praktischen Holländer, womit die ihre Sachen festmachen. Ich das nicht so eine Zange vom Starterkabel?
Zuhause kommt ein wesentlicher Akt, der einen großen Teil der Freude ausmacht. Die Beute wird begutachtet. Da muss ich nochmal ran. Jeder Stoff wird hochgehalten. Einmal nur so, dann an den Körper gedrückt, dann wieder hoch. Ganz stumm darf ich nicht bleiben, etwas muss ich schon sagen, mache ich auch. Und möglichst ehrlich, das ist dann doch wieder schwer. Ich sag’s ja: ein Sherpa hat’s nicht leicht.
Und hier ist sie, die (Aus)Beute (in voller Länge sind es 16 Meter, nicht schlecht, was?):
Der nächste Stoffmarkt ist wieder am 1. September in Potsdam.
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