Singin' in da house
Vom Glück, eine intelligente, singende Lebensform sein zu dürfen.
„Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten.“ Um 1780 wurde dieser Text zum ersten Mal auf Flugblättern veröffentlicht und zwischen 1810 und 1820 entstand die Melodie dazu. Und ich singe ihn heute mit meinen Nachbarn, nicht zum ersten Mal. Seit wir vor gut zwei Jahren gemeinsam am Lagerfeuer “Laurentia, liebe Laurentia mein” gesungen haben, treffen wir uns regelmäßig alle paar Wochen zum gemeinsamen Trällern; ich mit meiner Gitarre sowie Stimme, die anderen mit ihren Stimmen und alle mit Begeisterung.
Nach den „Freien Gedanken“ folgt Rudi Schurickes „Capri Fischer“, unter Insidern auch etwas abfällig als „Wenn bei“- Lied bezeichnet. Ein Song, der im Nachkriegsdeutschland die Sehnsüchte vieler Deutscher nach dem „Süden“ befriedigte. So geht es munter weiter. Wir interpretieren Reinhard Meys „Über den Wolken“ und „Gute Nacht Freunde“, besingen die roten Rosen von Hildegard Knef und probieren uns an dem Gastarbeitersong „Griechischer Wein“ von Udo Jürgens.
Das leibliche Wohl kommt natürlich auch nicht zu kurz, alle haben etwas mitgebracht. Als Suppe gibt es „Chili con Soya“ (vegan geht vor), als Beilage exotischen Glasnudelsalat und als Ergänzung gedünstete Karotten sowie rote Beete, Linsenhumus und eine sehr ansprechende Käseauswahl. Den Abschluss bilden zwei verschiedene Kuchen, auch sehr lecker!
Die Getränkefolge wird mit Aperol und Sanddorn Spritz eröffnet, gefolgt von Rot- oder Weißwein und zuweilen unterbrochen von Wodka, dem guten „Bakai“, direkt aus Kirgistan importiert. Das eine oder andere Bier schließt die Lücke.
Nach einer kleinen Pause singe ich mit Roland im Duett „Dona, Dona“, ein Lied, das durch Joan Baez und Donovan bekannt wurde. Die Verszeilen reflektieren die Situation der Juden in der Zeit des Dritten Reiches, in der es entstand. Das Lied handelt von einem Kälbchen, das sich nicht dagegen wehren kann, zur Schlachtbank geführt zu werden. Die Schwalbe hingegen bestimmt ihr Schicksal selbst, symbolisiert Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, die Basis der Freiheit.
Die Stimmung wird immer ausgelassener; ich freue mich, dass auch dieser Singeabend so gut bei allen ankommt.
Als wir „Über sieben Brücken musst du gehen“, anstimmen, ein Lied der Gruppe Karat, das eine 1975 von Helmut Richter geschriebene gleichnamige Liebesgeschichte widerspiegelt, fangen die Frauen an der linken Seite des Tisches an zu lachen und kriegen sich nicht mehr ein. Ich bekomme nur am Rande mit, dass es um heiß und kalt, Wechseljahre und so‘n Kram geht. Schließlich müssen wir abbrechen, nichts geht mehr. Nun steigen alle in die Lachsalven mit ein und lassen die Scheiben klirren. Es ist nicht zu fassen, über welche Albernheiten man sich auslassen kann. Aber das ist auch das Schöne. Mit so netten Menschen in so fröhlicher Runde in einem einzigartigen Augenblick im positiven Sinne gefangen zu sein. Klasse!
Nach gut fünf Stunden vortrefflicher Unterhaltung sind wir erschöpft, zufrieden und mir tun nun langsam aber sicher die Finger weh. Und ich muss wieder mal feststellen, dass es Tage gibt, die sind so besonders, dass ich sie am liebsten ausschneiden und für alle Zeit in die Vitrine stellen würde.
Als letztes Lied singen wir „Nehmt Abschied Brüder ungewiss“, die deutsche Version der schottischen Ballade „Old Long Syne“. Ich sehe etwas Feuchtes glitzern in den Augen meiner Nachbarn; mir geht’s genauso.
Habt Ihr etwas Ähnliches erlebt, schickt Bilder oder schreibt uns: info@grad60.com