Berliner Kiez-Plätze - Ein Gastbeitrag
Klaus Tolkmitt hat auf seinen Erkundungen durch Berlin einige Plätze (wieder)entdeckt, von denen er heute hier berichten will. Es ist nur eine kleine Auswahl, doch lassen sich die Plätze auf einem Spaziergang gut miteinander verbinden. Lasst euch also überraschen und kommt mit auf seine Entdeckungsreise.
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Wir starten auf dem Viktoria-Luise-Platz im Bayerischen Viertel in Schöneberg. Wer mit der U-Bahn (U4) anreist und die Treppen hochsteigt, steht schon fast mitten auf dem Platz.
Das unter Denkmalschutz stehende Areal hat die Form eines langgestreckten Sechsecks und ist nach Viktoria Luise von Preußen benannt, der einzigen Tochter Kaiser Wilhelms II. Schon bald nach der Reichsgründung 1871 hatten die nachbarschaftlichen Kommunen Charlottenburg und Schöneberg Anteil an der dynamischen Entwicklung der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches. 1898 erhielt Schöneberg die Stadtrechte und wurde bei Schaffung von Groß-Berlin im Jahr 1920 zusammen mit einer Reihe anderer selbstständiger Dörfer und Städte eingemeindet. Thomas hat hier mal gewohnt und auch schon einen sommerlichen Bericht geschrieben: Viktoria-Luise, meine alte Liebe
Halten wir uns vom U-Bahn Ausgang kommend rechts, stehen wir nach wenigen Metern vor dem großen Haus Nummer 6, in dem der Lette-Verein Berlin seine Ausbildungsstätte eingerichtet hat. Er ist heute eine Stiftung des öffentlichen Rechts und trägt den Begriff „Verein“ lediglich im Namen. Er versteht sich als Ausbildungsstätte für Berufe, die jungen Menschen eine solide Lebensbasis ermöglichen.
Gegründet wurde er 1866 von Wilhelm Adolf Lette als „Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“. Heute werden hier natürlich auch Männer in zukunftsweisenden Berufen ausgebildet. Der Anteil der Frauen beträgt derzeit aber immer noch 63 Prozent. Ist der Eingang offen, dann lohnt ein Blick in den „Hinterhof". Ein Ruhepol für die Schüler.
Gegenüber dem Lette-Verein auf der anderen Platz-Seite befindet sich an der Hausnummer 11 eine Gedenktafel für Billy Wilder. Wilder, der am 27. März 2002 in Los Angeles verstorben ist, war ein österreichischer Drehbuchautor, Filmregisseur und Filmproduzent, der nach seiner Emigration die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annahm.
Während seiner Berliner Zeit 1927 wohnte er gut ein Jahr in Schöneberg. Sein winziges Zimmer mit düsterer Tapete und Wand an Wand mit einer ständig rauschenden Toilette hatte aber auch was Gutes. Hier begann nämlich seine Filmkarriere. Kurios, aber wahr: Maxim Galitzenstein, der Direktor einer Filmgesellschaft hatte ein Tête-à-Tête mit seiner Zimmer-Nachbarin. Aus nicht näher beschriebenen Gründen musste er in Unterhosen flüchten und landete in Billy Wilders Zimmer. Viel später erzählte Billy Wilder seinem Biografen Hellmuth Karasek sein Erlebnis mit dem Direktor der Maxim-Film. Der kompromittierte Mann kam nicht umhin, später Wilders erstes Drehbuch kaufen zu müssen. Was für eine lustige Geschichte! In dem kleinen Zimmer trafen sich aber auch Erich Kästner und der junge Wilder, um am Drehbuch für Kästners Kinderkrimi „Emil und die Detektive" zu arbeiten.
Wir verlassen den Platz hinter dem Haus Nummer 7 mit der schönen Fassade und biegen in die Regensburger Straße ein. An der nächsten Ecke (Ansbacher Straße) im Haus Nummer 33 wohnte die große Künstlerin Claire Waldoff.
Claire Waldoff wurde 1884 in Gelsenkirchen geboren und verstarb am 22. Januar 1957 in Bad Reichenhall. Den Höhepunkt ihrer Karriere erreichte sie Mitte der 1920er Jahre in Berlin. Sie trat in den zwei größten Varietés, der Scala und dem Wintergarten, auf. Sie wurde für Operetten und Revuen engagiert und stand mit der noch unbekannten Marlene Dietrich auf der Bühne. Der Rundfunk spielte ihre Lieder und Ihre Schallplattenverkäufe erreichten Rekordhöhen. Besonders erfolgreich wurde sie mit Darbietungen von Chansons, gesungen im Berliner Dialekt. Ihre wohl berühmtesten Lieder sind: „Wer schmeißt denn da mit Lehm“, „Nach meene Beene is ja janz Berlin verrückt" und „Hermann heeßta".
Nach ca. 500 Metern stößt die Regensburger Straße auf die Bundesallee bzw. Spichernstraße. Hinter dem U-Bahn-Eingang Spichernstraße lässt sich die vierspurige Bundesallee gut überqueren, um dann rechts ein kleines Stück weiter zur Gerhart Hauptmann Anlage zu gelangen. In der Grünanlage, in der besonders im Frühjahr die zahlreichen Rosskastanien in roten Farben wunderschön blühen, versteckt sich hinter hohen Hecken ein kleines Denkmal für Gerhart Hauptmann.
Gerhart Hauptmann war ein deutscher Dramatiker und Schriftsteller. Er gilt als der bedeutendste deutsche Vertreter des Naturalismus. 1912 erhielt er einen Nobelpreis. Nicht nur seine Werke als Schriftsteller erregten oftmals die Gemüter, sondern auch Theaterstücke wie „Vor Sonnenaufgang“ erhielten große Aufmerksamkeit, wenngleich sie nicht immer unumstritten waren.
Für laue Sommertage habe ich noch einen besonderen Tipp! Direkt an den kleinen Park schließt sich die Universität der Künste an und bei warmem Wetter stehen oftmals die Fenster offen. So kann man für „lau“ klassischen Melodien lauschen.
Die Universität hat in Berlin verschiedene Standorte, an denen alle Musikrichtungen gelehrt werden. Die Universität hier an der Bundesallee ist ein Standort von knapp 20 Einrichtungen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fällt besonders der rote Klinkerbau auf, der einst das „Bundeshaus Berlin" war. Von 1950 bis zur Wiedervereinigung war das Gebäude Dienststelle des Bevollmächtigten der Bundesregierung in Berlin. Das gesamte Gebäudeensemble steht heute unter Denkmalschutz. Neben dem Haupteingang erinnert eine Gedenktafel an die Offiziere Erich Hoepner und Henning von Tresckow, die zum Widerstandskreis des 20. Juli 1944 gehörten (Hoepner wurde hingerichtet, von Tresckow nahm sich das Leben).
Hinter der Universität beginnt links die Schaperstraße. Noch etwas weiter links gelangt man hinter der Universität zur Parkdeckauffahrt und zur „Bar jeder Vernunft". Hier gibt es seit über 30 Jahren im Spiegelzelt intelligente Kleinkunst von Chanson, Cabaret, Show, Theater und Comedy. Gleich neben dem Parkplatz ist das „Haus der Berliner Festspiele“, attraktiver Spielort für zahlreiche internationale Gastspiele und Spielstätte der Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale).
Folgen wir weiter der Schaperstraße, stehen wir nach wenigen Metern auf dem Fasanenplatz. Hier besteht die Möglichkeit, ein schattiges Plätzchen zu finden, um ein wenig zu verweilen. Nach einem kleinen Rundgang wird ein alter Feuermelder auffallen. Von diesen Brandmeldern sind nur noch elf in ganz Berlin zu finden, die aber nicht mehr im Einsatz sind.
Am Fasanenplatz und in den Nebenstraßen lebten viele Künstler und Intellektuelle. Prominenteste Bewohner am Platz waren der Schriftsteller Gerhart Hauptmann und der Präsident der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, Heinrich Mann. Hauptmann lebte Mitte der 1890er Jahre im heutigen Haus Fasanenstraße 39. Mann wohnte 1932 ein Jahr lang wenige Schritte weiter südlich, im Haus Fasanenstraße 61. Wenige Meter nördlich des Platzes hatte der Schriftsteller Arno Holz von 1893 bis 1896 sein Domizil. Vorbei an kleinen Geschäften und Lokalen ist nach gut 300 Metern der Ludwigkirchplatz erreicht. Das zentrale Bauwerk auf dem Platz ist die namengebende St.-Ludwigs-Kirche, erbaut im neugotischen Stil.
Gleich nebenan fällt das ehemalige Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen, ursprünglich Kaiserliches Aufsichtsamt für Privatversicherer, in den Fokus. Es entstand von 1903 bis 1905 und wird heute von der Stiftung Wissenschaft und Politik, sowie dem Zentrum für Internationale Friedenseinsätze genutzt.
Oh, la la,...nun sollte man sich von dem südländischen Flair auf der Pariser Straße einfangen lassen und auf dem weiteren Spaziergang die schönen Häuser und kleinen Geschäfte genießen, bis es nach ca. 200 Metern rechts in die Fasanenstraße geht, die auf den Hohenzollernplatz trifft. Nicht zu übersehen ist hier die „Kirche am Hohenzollernplatz“.
Die Geschichte der Kirche ist zugleich auch die Geschichte des Kirchenkreises und des Berliner Bezirkes Wilmersdorf. Wilmersdorf war 1155 noch ein kleines Dorf, als ein Ritter von der Existent berichtete. Knapp hundert Jahre später wird Wilmersdorf zusammen mit den umliegenden Ortschaften des Kreises Teltow dem Bischof von Brandenburg unterstellt. 1766 wird das halbe Dorf samt Kirche durch ein Feuer zerstört, 1895 steigt die Einwohnerzahl schon auf über 10.000 und kommt 1910 auf über 109.000 Einwohner.
Neben der Kirche beginnt die Nikolsburger Straße, die keine 150 Meter weiter auf den Nikolsburger Platz führt. Wir sind jetzt mitten im Kiez von Emil und den Detektiven. Hierher zogen sich Emil und seine Freunde zurück, um „Kriegsrat" zu halten. Die Geschichte von Erich Kästner gibt es auch als Smartphone-Tour https://www.lialo.com/de/tour/56o3 und hier bei grad60.com. Ein Spaß für die ganze Familie.
Anfang des 20. Jahrhunderts erhielt der Nikolsburger Platz eine Grünanlage mit hölzernen Bänken und 1910 einen von Cuno von Uechtritz-Steinkirch entworfenen Bronzebrunnen, der eine Gänseliesel mit Gans darstellt. Im Jahr 1940 wurde der Brunnen von den Nationalsozialisten für die Rüstung eingeschmolzen. Harald Haacke schuf 1988 eine Nachbildung des historischen Gänseliesel-Brunnens.
Im gleichen Jahr wurde am Rande des Platzes das Cäcilien-Lyzeum fertiggestellt, das den Platz bis heute dominiert und die Cecilienschule beherbergt.
Nun geht es zum letzten Platz meiner beliebten Plätze. Über die Trautenaustraße gelangt man in wenigen Minuten zum Prager Platz. In den 1920er Jahren war hier ein kulturelles Zentrum im Berliner Westen. Hier lebten viele jüdische Bürger, Künstler und Intellektuelle. Erich Kästner, der hier in der Nähe wohnte, hat dem Prager- und dem Nikolsburger Platz mit seinen Werken ein literarisches Denkmal gesetzt. Es fühlten sich hier im Kiez aber auch berühmte Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Egon Erwin Kisch besonders heimisch.
Die „Prager Diele“ an der Ecke Trautenaustraße (heute befindet sich hier der „Prager Blick") lockte darüber hinaus russische Intellektuelle wie Maxim Gorki, Vladimir Nabokov und Boris Pasternak ins Viertel. Der Zweite Weltkrieg beendete allerdings diese Glanzzeit des Prager Platzes. 1987 wurde der Platz Teil der Internationalen Bauausstellung „IBA” und die neuen Gebäude zeigen das traditionelle architektonische Stilmittel der Eckbekrönung zur Betonung der Kopfbauten an den Straßeneinmündungen. An der Einmündung der Trautenaustraße fällt eine Steinskulptur besonders ins Auge.
Die Skulptur des tschechischen Bildhauers Miroslav Vochta, gestiftet von der R.M.Rilke-Stiftung und der Stadt Prag, Partnerstadt von Berlin, wurde 2007 auf dem Prager Platz enthüllt. Der Granit für das Monument wurde in dem berühmten Steinbruch von Mrakotin auf der historischen Grenze zwischen Böhmen und Mähren geschlagen. In den Stein sind Zitate des in Prag geborenen Dichters Rainer Maria Rilke eingraviert. Das Monument ist Teil des Projektes „Unsere Geschichte kennt keine namenlosen Helden”. Es soll für die friedliche und freundschaftliche Nachbarschaft von Deutschen und Tschechen stehen.
Wer noch mehr über die beschriebenen Plätze wissen möchte und Spaß an einer Schnitzeljagd hat, bei der kleine Aufgaben zu lösen sind, der sollte sich mit der Tour: „Beliebte Berliner Plätze“ auf Spurensuche machen. Hier der Link zur Tour: https://www.lialo.com/de/tour/2pbr
Berlin hat unzählige Plätze, die es wert sind, entdeckt zu werden. Meine Auswahl ist zugleich eine Aufforderung, selbst einmal auf Erkundung zu gehen, um eigene Erlebnisse zu erfahren. Ich freue mich über jedes „Abenteuer“ oder jede neue Entdeckung in Berlin. Wer Lust hat, schickt mir seine Berichte an meine E-Mail: meinberlin.erleben@gmail.com
Wir danken Klaus für diese nette Tour durch Berlin-Schöneberg und Wilmersdorf. Wenn ihr eigene Geschichten habt, schickt sie nicht nur Klaus, sondern auch an uns: info@grad60.com