Die Primaballerinen von Wilmersdorf
„Tendu grand battement“ und schon stellen die Ballerinen den Fuß auf und strecken das Bein in die Luft. Und zwar sehr hoch. Erstaunlich hoch, denn die Beine sind nicht mehr die jüngsten. Diese Damen vom Ballett haben die 60 hinter sich gelassen. Trotzdem springen, drehen und biegen sie sich, als ob sie gerade der Pubertät entkommen sind.
Ich soll’s doch auch mal probieren, werde ich aufgefordert. Zum Glück habe ich meinen Turnbeutel vergessen und kann bei der Ballett-Stunde „leider“ nur zuschauen. In meinem Sportstudio verbiege ich mich schon steif genug bei „Bauch, Beine, Po“. Dort habe ich die Trainerin Sabine kennengelernt, die mir als Anregung für unseren Blog die Ballett-Tänzerinnen im grad60-Alter vorstellen wollte: „Schon 1983 habe ich als Aerobic-Jane-Fonda mit Legwarmer in lila-türkis angefangen, das ist lange her“, lacht die ausgebildete Tanzpädagogin.
Heute betreibt Sabine das Ballettstudio Marlen mit zwei Trainingsräumen in Wilmersdorf. Rund 15 Teilnehmerinnen bekommen in der Ballettstunde auch ganz individuelle Betreuung von Sabine, damit das Bein im richtigen Bogen schwingt.
Ballett ist eben kein Aerobic-Gehopse, sondern braucht neben der Gelenkigkeit auch starke Konzentration auf die korrekte Körperhaltung, damit die Bewegungen anmutig aussehen. Und offensichtlich hält das Ballett auch jung. Ich kann es kaum fassen, wie Ingrid beim „Jambe sur la barre“ ihr Bein auf die Stange hebt. Sie ist mit ihren 86 Jahren die Seniorin in der Gruppe.
„Es war schon als Kind mein Traum beim Ballett zu sein. Ich habe mich auf die nackten Zehnspitzen gestellt und zu meiner Mutter gesagt: Guck mal, so toll kann ich Ballett. Aber es war Kriegszeit und so musste ich 40 Jahre auf meinen Traum warten.“ Jetzt genießt Ingrid das soziale Umfeld beim zweimaligen Training in der Woche und dass man dabei fit, gesund und schlank bleibt. „Andere in meinem Alter sind mit dem Rollator unterwegs“ sagt sie und dreht eine Pirouette vor meinen staunenden Augen.
Ein paar jugendliche Tänzerinnen drücken den Altersdurchschnitt der Gruppe ganz deutlich. „Schön, dass unser Sport so generationsübergreifend ist“, bemerkt Gudrun. „Die jungen Frauen sind auch bei Feiern dabei und wir haben gemeinsam Spaß! Ich hatte als Jugendliche sieben Jahre Ballettunterricht und habe dann nach langer Pause vor neun Jahren mit 67 wieder angefangen".
Gundula hatte ihre Bewegungsfreude als Kind beim Volkstanz ausgelebt. Beim Ballett ist sie erst seit fünf Jahren mit Freude dabei.
Auch Ute hat Spaß und erklärt mir die Herausforderungen: „Im Kopf hat man die Choreographie drin, dann muss sie in Beinen und Armen umgesetzt werden und wenn man dann elegant aussehen möchte, dann sind die Schritte wieder weg“.
Und richtig elegant soll es schon aussehen, besonders bei Aufführungen. Davon hat uns Beate eine Sammlung von Auftritt-Fotos zugeschickt. Sie selber ist schon seit jungen Jahren beim Ballett. Sie hat mit 24 Jahren angefangen und ist nunmehr seit 45 Jahren dabei.
Im Kostüm vor dem Publikum zu stehen, das ist schon ein aufregendes Erlebnis, da sind sich alle einig. Und in den herrlichen Kostümen sind sie alle Primaballerinen. Ganz eindeutig.
Für mich war es unterhaltsam und eine interessante Erfahrung, bei der Ballettstunde zuzuschauen und mir ist klar: Wer etwas gelenkig ist, kann auch mit 60+ beim Ballett einsteigen. Auch als Mann, dann ist man halt der Hahn im Korb. Ich hatte ja leider meinen Turnbeutel vergessen.